Killinger Literaturkunde, Schulbuch

164 Die Ausrichtung auf das Mittelpunktereignis hat zur Folge, dass sich der Autor um die Raffung der Handlung und um Kürze bemühen muss: Er springt, verknappt und spart aus. Der Aufbau einer Novelle ist ähnlich straff wie der einer klassischen Tragödie: Auf eine kurze Ex- position folgt das erregende Moment; die Handlung wird bis zum Wendepunkt geführt, der etwas Unerwartetes, Außerordentliches bringt. In manchen Novellen kommt ein Zentralmotiv oder Leitmotiv vor: An mehreren entscheidenden Stellen begegnen wir einem bestimmten Ding, Tier oder Menschen; manchmal ist es auch ein Lied, ein Spruch. Das Zentralmotiv kann symbolische Bedeutung haben (Dingsymbol). Jedenfalls hat es Signalwirkung, aber auch die Aufgabe, die Handlung zu verklammern. Paul Heyse nannte ein sol- ches Leitmotiv, das an den wesentlichen Stellen des Textes wiederkehrt, das Falkenmotiv (nach einer Novelle von Boccaccio aus dem Decamerone ). Manche Novellen weisen einen Rahmen auf, das heißt, die zu erzählende Geschichte wird in eine Erzählung eingebettet. Der Rahmen kann die Aufgabe haben, mehrere Erzählungen zu einem „No- vellenkranz“ zu verbinden, wie in Boccaccios II Decamerone . Der Rahmen kann aber auch eine ein- zige Geschichte umschließen. Häufig schafft sich der Autor eine Erzählerfigur, die aus ihrem Leben berichtet und als Gewährsmann für die Glaubwürdigkeit des Erzählten dient. Die folgende Novelle ist sehr kurz, erfüllt aber dennoch die Kriterien für diese Textsorte. Signalwirkung des Zentralmotivs Giovanni Boccaccio, Il Decamerone: französische Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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