Killinger Literaturkunde, Schulbuch

161 land erlebte er – wie viele junge Menschen seiner Zeit – als Despotismus, die Deutschen als Inbe- griff der Barbaren 1 . Der Held seines Romans Hyperion (1799), der aktiv am Befreiungskampf der Griechen gegen die Türkei teilnimmt, scheitert politisch – wie Hölderlin – an den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Der Roman endet resignativ mit einer Beschimpfung der Deutschen: 1 5 10 So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefasst, noch weniger zu ˆnden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empˆng; und schöne Seelen ihm begegneten – Wie anders ging es mir! Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbari- scher geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls [...], in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster. Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre als die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen. 2. Fassen Sie die Kritik Hölderlins an den Deutschen in eigenen Worten zusammen: • Interpretieren Sie die Stelle „durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbari- scher geworden“. • Nehmen Sie Stellung, inwieweit Hölderlins Aussage als prophetisch für die deutsche Ge- schichte im 20. Jahrhundert angesehen werden kann. In seiner Lyrik knüpfte Hölderlin an Friedrich Gottlieb Klopstock an. Wie dieser verwendete er grie- chische Gedichtformen, die Ode, die Elegie und die strophisch gegliederte Hymne in freien Rhyth- men. Seine Sprache ist voll Pathos und Bildkraft, eigenwillig im Satzbau und in der Wortwahl. 2 4 6 8 10 12 Friedrich Hölderlin Abendphantasie (1799) Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt Der P¡üger, dem Genügsamen raucht sein Herd. Gastfreundlich tönt dem Wanderer im Friedlichen Dorfe die Abendglocke. Wohl kehren jetzt die Schiffer zum Hafen auch, In fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts Geschäftger Lärm; in stiller Laube Glänzt das gesellige Mahl den Freunden. Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh und Ruh Ist alles freudig; warum schläft denn Nimmer nur mir in der Brust der Stachel? Elegische Ich-Lyrik 1 Barbaren: unkultivierte Menschen j2g239 ZWISCHEN KLASSIK UND ROMANTIK Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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