Killinger Literaturkunde, Schulbuch

159 1 Widerwille = hier: unvereinbarer Gegensatz Sowohl Schiller als auch Goethe beschäftigten sich eingehend mit dem Verhältnis von Natur und Kunst, Freiheit und Gesetz. Der Begriff „Natur“ steht für das ursprüngliche, freie, vom Menschen unabhängige Sein; der Begriff „Kunst“ für das geschaffene, geistige, den Gesetzen der Ästhetik gehorchende Sein. Schiller erklärte, dass Freiheit und Gesetz im künstlerischen Gebilde des „Schö- nen“ zu einer Harmonie verschmelzen. So gelangt der Mensch durch das Kunstwerk zu wahrer Humanität. Das folgende Gedicht von Goethe, entstanden um 1800, ist wohl ohne den Gedankenaustausch mit Schiller nicht denkbar. 2 4 6 8 10 12 14 Johann Wolfgang Goethe Natur und Kunst (um 1800) Natur und Kunst, sie scheinen sich zu iehen Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; Der Widerwille 1 ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen. So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Großes will, muss sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. 18. Vergleichen Sie die genannten Werte mit der Auffassung des Sturm-und-Drang-Goethe: • Diskutieren Sie die Rolle von Natur und Kunst. • Illustrieren Sie, wie der Grundgedanke des Gedichts in seiner Form wiedergegeben wird. • Beziehen Sie zu der Aussage der letzten Zeile Stellung. Goethe hatte Schiller kurz nach seiner italienischen Reise kennen gelernt. Die beiden, die in ihrem Denken und Dichten so grundverschieden waren, standen sich vorerst fremd gegenüber. Dann aber, nach ein paar Jahren, begann ein Briefwechsel über Kunst und Literatur, aus dem sich eine tiefe Freundschaft entwickelte. Sie machten einander auf poetische Stoffe aufmerksam und regten sich zu dichterischer Produktion an. Wegen Schillers beständigem Zureden setzte Goethe seinen Faust fort. 1797 gaben sie gemeinsam einen Musenalmanach (eine Art Jahrbuch) heraus, in dem sie Bal- laden veröffentlichten. Schiller starb 1805, mit 46 Jahren, und Goethe hatte damit seine kongeniale Bezugsperson verloren. wf3f32 die deutSche KlaSSiK | 1786 – 1805 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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