Killinger Literaturkunde, Schulbuch

155 DIE LyRIk DER kLAss Ik Schillers Gedichte der klassischen Zeit werden als Gedankenlyrik bezeichnet, weil sie nicht einzelne Erlebnisse und Stimmungen gestalten (vgl. Goethes Erlebnislyrik, Seite 97f.), sondern Ideen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Friedrich Schiller Das verschleierte Bild zu Sais (1795) Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester Geheime Weisheit zu erlernen, hatte Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt; Stets riss ihn seine Forschbegierde weiter, Und kaum besänftigte der Hierophant 1 Den ungeduldig Strebenden. „Was hab ich, Wenn ich nicht alles habe?“, sprach der Jüngling. „Gibt’s etwa hier ein Weniger und Mehr? Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück Nur eine Summe, die man größer, kleiner Besitzen kann und immer doch besitzt? Ist sie nicht eine einz’ge, ungeteilte? Nimm einen Ton aus einer Harmonie, Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen – Und alles, was dir bleibt, ist nichts, solang Das schöne All der Töne fehlt und Farben.“ Indem sie einst so sprachen, standen sie In einer einsamen Rotonde 2 still, Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße Dem Jüngling in die Augen ”el. Verwundert Blickt er den Führer an und spricht: „Was ist’s, Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?“ „Die Wahrheit“, ist die Antwort. „Wie?“, ruft jener, „Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese Gerade ist es, die man mir verhüllt?“ „Das mache mit der Gottheit aus“, versetzt der Hierophant. „Kein Sterblicher, sagt sie, Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe. Und wer mit ungeweihter, schuld’ger Hand Den heiligen, verbotnen früher hebt, Der, spricht die Gottheit –“ „Nun?“ „Der sieht die Wahrheit.“ „Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst, Du hättest also niemals ihn gehoben?“ ideen lyrisch geformt 1 Hierophant: Oberpriester 2 Rotonde: Rundbau t8d5kn die deutSche KlaSSiK | 1786 – 1805 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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