Killinger Literaturkunde, Schulbuch

154 20 25 30 35 je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto voll- kommner ist er. [...] Wenn er sich äußerlich in jedem Momente seines Lebens zu beherr- schen weiß, so hat niemand eine weitere Forderung an ihn zu machen, und alles übrige, was er an und um sich hat, Fähigkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein. [...] Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten; er darf überall vorwärtsdringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: ›Was bist du?‹ sondern nur: ›Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen?‹ Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächer- lich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß. An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld; ob sich daran einmal etwas ändern wird und was sich ändern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche. 14. Stellen Sie Wilhelms Wunschvorstellungen der Realität des 18. Jahrhunderts gegenüber: • Kommentieren Sie, inwiefern dieser Abschnitt charakteristisch für den Bildungs- und Entwick- lungsroman ist. • Beziehen Sie Stellung zum Bildungsideal Wilhelm Meisters. erzählverhalten Die Geschichte Wilhelm Meisters ist in der Er/Sie-Form dargestellt: Sie wird von einem Erzähler mitgeteilt, der über dem Geschehen steht. Dieser Erzähler kennt alle Personen und ihr Innenleben; er weiß alles, was geschieht und geschehen wird, er ist sozusagen allwissend. Manchmal löst er sich aus dem Erzählzusammenhang und setzt sich mit dem Leser in Verbindung, etwa wenn er ihn anredet und ihm seine Meinung von den Dingen im Präsens mitteilt. Man nennt eine solche Erzähl- technik auktoriales Erzählverhalten (lat. auctor = Urheber, Verfasser). Im Wilhelm Meister finden sich immer wieder Stellen von auktorialem Erzählverhalten (Gegensatz: personales Erzählverhalten, vgl. Seite 411f.), etwa: Wenn die erste Liebe, wie ich allgemein behaupten höre, das Schönste ist, was ein Herz frü- her oder später emp”nden kann, so müssen wir unsern Helden dreifach glücklich preisen, dass ihm gegönnt ward, die Wonne dieser einzigen Augenblicke in ihrem ganzen Umfange zu genießen. allwissender erzähler Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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