Killinger Literaturkunde, Schulbuch

153 1 5 10 15 Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie ihm, dass der Vater sehr verdrießlich sei und ihm den täglichen Besuch des Schauspiels nächstens untersagen werde. „Wenn ich gleich selbst“, fuhr sie fort, „manchmal gern ins Theater gehe, so möchte ich es doch oft verwünschen, da meine häusliche Ruhe durch eine unmäßige Leidenschaft zu diesem Vergnügen gestört wird. Der Vater wiederholt immer, wozu es nur nütze sei, wie man seine Zeit nur so verderben könne.“ „Ich habe es auch schon von ihm hören müssen“, versetzte Wilhelm, „und habe ihm viel- leicht zu hastig geantwortet; aber um’s Himmels willen, Mutter! ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz ver- schafft? Hatten wir in dem alten Haus nicht Raum genug? Und war es nötig, ein neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht jährlich einen ansehnlichen Teil seines Handelsgewinnes zur Verschönerung der Zimmer? Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien, sind sie nicht auch unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringeren begnügen? Wenigstens bekenne ich, dass mir diese gestreiften Wände, diese hundertmal wiederholten Blumen, Schnörkel, Körbchen und Figuren einen durchaus unangenehmen Eindruck machen. Sie kommen mir höchstens vor wie unser Theatervorhang. Aber wie anders ist’s, vor diesem zu sitzen! Wenn man noch so lange warten muss, so weiß man doch, er wird in die Höhe gehen, und wir werden die mannigfaltigsten Gegenstände sehen, die uns unterhalten, aufklären und erheben.“ 13. Beschreiben Sie die unterschiedlichen Lebensauffassungen von Eltern und Sohn: • Arbeiten Sie den Gegensatz zwischen Eltern und Sohn heraus. • Vergleichen Sie die unterschiedlichen Einstellungen der Mutter und des Vaters. • Stellen Sie dar, inwiefern diese Ansichten das Milieu der Romanfiguren widerspiegeln. • Kommentieren Sie, worin Wilhelm die Aufgabe des Theaters sieht. • Stellen Sie Vermutungen darüber an, ob diese Auseinandersetzung – mit gewissen Verände- rungen – auch heute so ablaufen könnte. Wilhelms Einstellung zu seinem Leben zeigt sich auch in einem Brief an seinen Freund Werner, in dem er schreibt: 1 5 10 15 Daß ich dir’s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesin- nungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. [...] Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persön- lichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur P icht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muß: so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält. Eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zier- lichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht steht. Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, gj3q73 die deutSche KlaSSiK | 1786 – 1805 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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