Killinger Literaturkunde, Schulbuch

150 30 35 40 45 50 55 60 65 TASSO: O wenn aus guten, edlen Menschen nur Ein allgemein Gericht bestellt entschiede, Was sich denn ziemt! anstatt dass jeder glaubt, Es sei auch schicklich, was ihm nützlich ist. Wir sehn ja, dem Gewaltigen, dem Klugen Steht alles wohl, und er erlaubt sich alles. PRINZESSIN: Willst du genau erfahren, was sich ziemt, So frage nur bei edlen Frauen an. Denn ihnen ist am meisten dran gelegen, Dass alles wohl sich zieme, was geschieht, Die Schicklichkeit umgibt mit einer Mauer Das zarte, leicht verletzliche Geschlecht. Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie, Und wo die Frechheit herrscht, da sind sie nicht. Und wirst du die Geschlechter beide fragen: Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte. TASSO: Du nennest uns unbändig, roh, gefühllos? PRINZESSIN: Nicht das! Allein ihr strebt nach fernen Gütern, Und euer Streben muss gewaltsam sein. Ihr wagt es, für die Ewigkeit zu handeln, Wenn wir ein einzig nah beschränktes Gut Auf dieser Erde nur besitzen möchten Und wünschen, dass es uns beständig bliebe. Wir sind vor keinem Männerherzen sicher, Das noch so warm sich einmal uns ergab. Die Schönheit ist vergänglich, die ihr doch Allein zu ehren scheint. Was übrig bleibt, Das reizt nicht mehr, und was nicht reizt, ist tot. Wenn’s Männer gäbe, die ein weiblich Herz Zu schätzen wüssten, die erkennen möchten, Welch einen holden Schatz von Treu und Liebe Der Busen einer Frau bewahren kann; Wenn das Gedächtnis einzig schöner Stunden In euren Seelen lebhaft bleiben wollte; Wenn euer Blick, der sonst durchdringend ist, Auch durch den Schleier dringen könnte, den Uns Alter oder Krankheit überwirft; Wenn der Besitz, der ruhig machen soll, Nach fremden Gütern euch nicht lüstern machte: Dann wär’ uns wohl ein schöner Tag erschienen, Wir feierten dann unsre goldne Zeit. 11. Untersuchen Sie, wie Tasso in dieser Textstelle den Verlust der „goldnen Zeit“ beklagt: • Beschreiben Sie Tassos Vorstellung vom goldenen Zeitalter und vom Maßstab des Verhaltens in dieser Zeit. • Vergleichen Sie diese Vorstellung mit dem Maßstab, den die Prinzessin Tasso entgegensetzt und mit ihrer Meinung von der „goldnen Zeit“. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=