Killinger Literaturkunde, Schulbuch

15 292 Dô si den hôhgemuoten vor ir stênde sach, dô erzunde sich sîn varwe diu schœne maget sprach: „sît willekomen, her Sîvrit, ein edel ritter guot.“ dô wart im von dem gruo  e vil wol gehœhet der muot. 293 Er neic ir ‘î  eclîche: bi der hende si in vie. wie rehte minneclîche er bî der frouwen gie! mit lieben ougen blicken ein ander sâhen an der herre. und ouch diu frouwe: da  wart vil tougenlîch getân. [...] 295 Bî der sumerzîte und gein des meien tagen dorfte. er in sîme herzen nimmer mêr getragen sô vil der hôhen vreude denne. er dâ gewan, dô im diu gie enhende die er ze trûte wolde hân. 1. Kommentieren Sie obigen Text: • Erläutern Sie, welche Aufschlüsse der Text über die Lebensweise und die gesellschaftlichen Umgangsformen an einem mittelalterlichen Fürstenhof gibt. • Beschreiben Sie, was man über Stellung und Rolle der adeligen Frau in der Welt des Ritter- tums erfährt. • Geben Sie Beispiele für Wörter, die den kampferprobten ritterlichen Mann bezeichnen. • Illustrieren Sie, in welcher Bedeutung das Word „muot“ verwendet wird. 2. Diskutieren Sie die Bedeutung des Wortes „muot“ anhand der folgenden neuhochdeutschen Wendungen und Zusammensetzungen: guten Mutes sein, mir ist nicht wohl zumute, Hoch- mut, Schwermut, Wehmut, Sanftmut. In Kriemhilds Traum von dem starken und schönen Falken, den ihr zwei Adler mit den Krallen zerrei- ßen, klingt das Leitmotiv ihres Schicksals und des ganzen Nibelungenepos zum ersten Mal an: dass Liebe und Freude mit Leid bezahlt werden müssen. Immer wieder tauchen die Begriffe „liep“ (Liebe, Freude) und „leit“ gemeinsam auf, als gehörten sie mit Notwendigkeit zusammen: 284, 4 291, 2 Sîvride dem herren wart beide liep unde leit. dô truoc er ime herzen liep âne leit Dem Herrn Siegfried wurde abwechselnd warm und kalt ums Herz. 1 und es lachte ihm das Herz in ungetrübter Freude 2 Liebe und Leid Kriemhild begrüßt Siegfried Als sie den hochherzigen Mann vor sich stehen sah, da übergoss glühende Röte sein Antlitz. Die schöne Jungfrau sagte: „Seid willkommen, Herr Siegfried, edler, trefflicher Ritter!“ Da ließ der Gruß sein Herz höher schlagen. Mit Hingabe verneigte er sich vor ihr, sie aber ergriff seine Hand und ach, wie lieblich er doch an der Seite Kriemhilds einherging! Mit freundlichen Blicken sahen der Ritter und die Dame einander an, doch immer nur heimlich und verstohlen. [...] Weder der Sommer noch der Frühling hätten ihn so von Herzen glücklich machen können, wie es da geschah: als das geliebte Mädchen, das er heimzuführen hoffte, mit ihm Hand in Hand ging. 1 Wörtliche Übersetzung: Dem Herrn Siegfried wurde sowohl Liebe als auch Leid zuteil. 2 Wörtliche Übersetzung: Da trug er im Herzen Liebe ohne Leid. n25hm9 DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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