Killinger Literaturkunde, Schulbuch

145 2. Die Affekthandlung eines leidenschaftlichen Charakters zerstört die Ordnung (Medea). 3. Die Tat des Helden ist vom Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt, vorherbestimmt. So sagt der Ödipus des Sophokles, am Ende gebrochen durch die furchtbare Erkenntnis seiner schicksals- bedingten Schuld: Nun, unser Schicksal geh, wohin es gehe! Die deutschen Klassiker, Goethe und Schiller, verankern unter dem Einfluss des Christentums und der Aufklärung die tragische Schuld im sittlichen Charakter des Helden. Die Vorstellung von persön- licher Schuld setzt allerdings die Möglichkeit freier Entscheidung voraus. Schiller war zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch zu freier sittlicher Entscheidung befähigt sei. In der deutschen klassischen Tragödie wird aufgezeigt, wie der Mensch durch einen Bruch des Sit- tengesetzes schuldig wird und sühnt. Schiller lässt Maria Stuart in der Beichte vor ihrer Hinrichtung sagen: Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen. (V/7) Der Held der deutschen klassischen Tragödie sühnt seine Schuld mit dem Tod. In der Antike gab es – gerade in den erschütterndsten Tragödien – den „versöhnlichen“ Schluss: Der Muttermörder Orest wird von seinem Wahn geheilt; Ödipus findet in der Einsamkeit ein friedliches Ende, und Medea entschwindet nach der Ermordung ihrer Kinder in ihrem Drachengefährt. Das entscheidende Merkmal der antiken Auffassung von Tragödie liegt also nicht im Ausgang des Dramas, sondern in der tragischen Konfliktsituation bzw. der schicksalhaften Ausweglosigkeit. darstellungsmittel des griechischen dramas Charakteristisch für das griechische Drama ist der Chor. Zunächst war er der einzige Handlungsträ- ger, dann löste er sich immer mehr aus der Handlung und beschränkte sich auf eine Betrachtung der Ereignisse von höherer Warte. Er erläuterte das Geschehen, sah voraus und warnte, ohne jedoch aktiv einzugreifen; er stellte grundsätzliche Betrachtungen an, wie etwa im folgenden Ausschnitt von Sophokles’ Antigone : 1 5 10 CHOR: Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch. Er fährt auch im Sturm über das graue Meer unter stürzenden Wogen durch. Und das Heiligtum der Götter, die Erde, die unerschöp iche, unermüdliche, durchfurcht sein P ug. Auf und ab ackern die Rosse Jahr um Jahr. Freie sittliche entscheidung aufgaben des chors yf78dv die deutSche KlaSSiK | 1786 – 1805 Nur zu Prüfzwecke – Eigentum des Verlags öbv

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