Killinger Literaturkunde, Schulbuch

139 Ein Bote erscheint und berichtet über solche Ereignisse. Ein anderer Kunstgriff ist die Mauerschau. Eine Figur sieht über eine Absperrung und schildert, was sich hinter dieser Mauer, außerhalb des Blickfeldes der Zuschauer abspielt. Schon die griechischen Dichter verwendeten zwei Formen des dramatischen Aufbaus. Im Zieldrama (synthetischer Aufbau) setzt die Handlung auf der Bühne mit den konfliktauslösenden Ereignissen ein und strebt zeitlich fortlaufend dem Ende zu. Im Enthüllungsdrama (analytischer Aufbau) sind die konfliktauslösenden Ereignisse bereits vor dem Einsetzen der Bühnenhandlung geschehen und weder den handelnden Personen noch den Zuschauern zur Gänze bekannt. Das analytische Drama „enthüllt“ diese Ereignisse rückschauend wie ein Detektivroman, der mit dem Mord beginnt und nach und nach die Vorgänge, die zum Mord geführt haben, aufdeckt. Der Reiz des analytischen Dramas liegt darin, dass der Zuschauer mit den Bühnenfiguren nach der Lösung des „Falles“ sucht. Ein Beispiel für ein Enthüllungsdrama ist König Ödipus von Sophokles, ein Beispiel für ein Zieldrama Antigone . Sophokles: antigone Der Stoff des Dramas stammt aus dem thebanischen Sagenkreis um Ödipus. Ödipus tötet den König von Theben und heiratet die Königin, ohne zu wissen, dass die beiden seine Eltern sind. Viele Jahre später erkennt er seine eigene Bluttat und bestraft sich selbst, indem er sich die Augen aussticht. Nach seinem Tod sollen seine Söhne, Eteokles und Polyneikes, Theben jährlich abwechselnd regie- ren. Eteokles will aber die Herrschaft nicht abgeben und vertreibt seinen Bruder. Dieser kehrt an der Spitze eines Heeres zurück, um Theben für sich zu erobern. Im Nahkampf töten die Brüder einander. Ihr Onkel, Kreon, übernimmt die Regierung. Er lässt Eteokles, den Verteidiger der Stadt, in einem Eh- rengrab beisetzen, die Leiche des Polyneikes, des „Landesfeindes“, aber soll unbestattet verwesen. Die Todesstrafe droht dem, der dieses Gebot übertritt. Antigone, eine der beiden Schwestern der feindlichen Brüder, handelt dem Befehl des Königs zuwider; sie begräbt ihren Bruder Polyneikes, da nach antikem Glauben die Seele eines Unbestatteten nicht zur Ruhe kommen kann. Antigone wird bei ihrer Tat ertappt und von Wächtern vor König Kreon geführt. 1 5 10 15 KREON: Hast du gewusst, dass es verboten war? ANTIGONE: Ich wusst’ es. – Wie denn nicht? – War’s doch bekannt. KREON: Und dem zu trotzen hast du doch gewagt? ANTIGONE: Ja, denn von Zeus nicht kam mir das Gebot. [...] Wie konnt’ ich glauben, dass, was du be”ehlst, das ungeschriebne ewige Gesetz der Götter konnte beugen und besiegen, obwohl’s ein Mensch nur gab, der sterblich ist. Denn nicht von heut und gestern, sondern ewig lebt dies Gesetz in uns, in unsrer Brust, und niemand weiß den Tag, seit wann es ist. Für dieses wollt’ ich nicht aus feiger Furcht vor eines Menschen Wut der Götter Zorn und ihrem Strafgericht verfallen sein. Denn dass ich einmal sterbe, wusst’ ich ja, wenn’s dein Gebot auch nicht verhieß, und sterb’ Formen des aufbaus thebanischer Sagenkreis 9v83vg die deutSche KlaSSiK | 1786 – 1805 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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