Killinger Literaturkunde, Schulbuch

136 und beherrschende Mensch die Idee des Humanen verkörpert. Das Maß zu wahren, die in sich geschlossene und daher harmonische und schöne Form nicht zu sprengen, beständig zu sein in allen Wandlungen des Lebens, in allem Wechsel des Gefühls – das sind die Schranken, die sich der klassische Dichter setzt. Aus seinen naturwissenschaftlichen Beobachtungen gewann Johann Wolfgang von Goethe die Ein- sicht, dass sich alles Lebendige „nach ewigen Gesetzen“ richtet. In jedem Samenkorn liegt die Kraft, zu einer in ihrer Art vollendeten Pflanze zu werden. Jedes Tier entwickelt sich gemäß dem Urbild, das die Natur als Form, als Idee bewahrt (Idealismus). Alles lebendige Sein ist also Sein in einer vor- herbestimmten, genau umgrenzten Form. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur so beschränkt war je das Vollkommene möglich. (Goethe) Auch der Mensch kann sich nur dann dem Ideal nähern, wenn er das Gesetz seines Daseins erfüllt, nämlich Repräsentant der zeitlosen Idee des Humanen zu sein. Das bedeutet: seinen Mittelpunkt in sich selbst zu haben, innerlich ausgewogen zu sein, nach dem Gebot des sittlichen Gewissens zu handeln. Nur wer im Einklang mit dem ewigen Gesetz des humanen Daseins lebt, ist in Wahrheit frei. Das klassische Kunstwerk soll Ausdruck und Verkörperung der Schönheit und „frei von jeder Zeitge- walt“ (Schiller), also zeitlos gültig sein. Es hat die Idee des Humanen zum Inhalt. Ein Einzelschicksal, das in einem Drama dargestellt wird, steht exemplarisch für eine menschliche Ursituation. Iphigenie beispielsweise verkörpert den sich läuternden Menschen, der schließlich fähig wird, durch seine sittliche Tat „alle irdischen Gebrechen“ zu heilen. Neben Iphigenie auf Tauris und dem Künstlerdrama Torquato Tasso gelten einige Gedichte Goethes (besonders die Römischen Elegien ) und einige Balladen (z. B. Die Braut von Korinth , Der Schatzgrä- ber , Der Gott und die Bajadere ) als klassisch. Schiller wandelte sich während seiner Arbeit an dem Drama Don Carlos zum Klassiker. Klassische Dramen Schillers sind Wallenstein und Maria Stuart . In der Schicksalstragödie Die Braut von Messina versuchte Schiller den antiken Chor wiederzubeleben. Auch Schillers Gedankenlyrik und seine Balladen enthalten klassische Ideen ( Das verschleierte Bild zu Sais , Die Götter Griechenlands , Die Künstler , Das Ideal und das Leben , Der Ring des Polykrates , Der Taucher , Die Bürgschaft , Die Kraniche des Ibykus , Der Handschuh ). Schiller hat außerdem einige bedeutende kunsttheoretische Schriften verfasst, in denen er sich mit der Antike, mit antiken Formen und mit dem Wesen des Dichterischen auseinandersetzt. Während die französischen Klassizisten (Pierre Corneille und Jean Racine) in ihren Dramen mit Vor- liebe antike Stoffe wählten, ist dies bei Goethe und Schiller nicht die Regel. Nicht der Stoff macht das Werk zu einem klassischen, sondern die dargestellte Idee vom Menschen und die Sprache. Andere Dichter/innen, wie Franz Grillparzer oder Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts, haben zwar antike Stoffe verarbeitet, sind aber trotzdem keine Klassiker im eigentlichen Sinn. DAs gRIEcHI scHE DRAMA Man versteht die deutsche Klassik wesentlich besser, wenn man einige Kenntnis vom griechischen Drama hat. idee des humanen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=