Killinger Literaturkunde, Schulbuch

135 Die deutsche Klassik orientierte sich an der griechischen und römischen Antike, die den Klassikern – im Gegensatz zur eigenen Epoche – als eine ideale Zeit erschien, in welcher der Mensch in „edler Einfalt und stiller Größe“ lebte. Dieses idealisierte Bild der Antike hatte der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) entworfen. Die antike Welt war in Europa nie ganz untergegangen. Nahezu jedes spätere Zeitalter hat sich mit ihr auseinandergesetzt, nahezu jeder Zeitabschnitt ist von der Antike beeinflusst: Die Denker und Theologen des Mittelalters wurden vor allem von der Philosophie des Aristoteles geprägt; seit der Renaissance (15. Jahrhundert) wirkten die Werke griechischer und römischer Philosophen, Schrift- steller und Dichter auf das Geistesleben ein, griechische und römische Bauwerke und Plastiken auf die bildende Kunst. Die europäische Kultur ruht in wesentlichen Bereichen auf der Basis Antike. Das Besondere an diesem Fortleben der Antike ist dies: Jede Zeit holt sich ihre Anregungen aus der an- tiken Kultur, jede Zeit formt sich ihr eigenes Bild von der Antike. Die deutsche Klassik umfasst den kurzen Zeitraum von Goethes erstem Aufenthalt in Rom (1786) bis zu Schillers Tod (1805). Als klassische Dichter bezeichnet man nur Goethe und Schiller. Das Wort „klassisch“ kommt als Qualitätsbegriff schon in der Antike vor. Es taucht im Mittelal- ter vereinzelt, seit der Renaissance und dem Humanismus häufig auf und bedeutet: mustergültig, beispielhaft. Zeitalter, Werke und Schriftsteller werden mit dem Wort „klassisch“ gekennzeichnet. Goethe und Schiller verwendeten das Wort hin und wieder, bezogen es aber nur auf die Antike. Sie verstanden sich selber nie als Klassiker und bezeichneten ihre Werke nicht als klassisch. Als Klas- siker wurden sie erst von der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Ihre „vorbildhaften“ Werke waren neben denen antiker Schriftsteller das wesentliche Bildungsgut des humanistischen Gymnasiums. Unter Klassik versteht man inhaltlich ein Humanitäts- und Persönlichkeitsideal, formal eine Sprache mit hohem Anspruch und Dichtungen, die den antiken Mustern entsprechen und beispielgebend sind. Die Klassiker glaubten an die Fähigkeit des Menschen, sich durch Erziehung und Bildung zu einer harmonischen, in sich widerspruchsfreien Persönlichkeit entwickeln zu können. Das Bildungsmittel sollte die Kunst sein. Es wurde ein neuer Begriff von Kunst vertreten: Nicht mehr die schöpferische Willkür des Originalgenies der Sturm-und-Drang-Zeit, das sich keinem Gesetz, keiner Regel unter- wirft, war das künstlerische Glaubensbekenntnis, sondern das Erkennen und Erfüllen der als zeitlos verstandenen objektiven Gesetze der Kunst. Diese Gesetze schienen den Klassikern in den Werken der Antike am besten verwirklicht. Goethe und Schiller waren – entsprechend dem Antikebild ihrer Zeit – überzeugt, dass die Menschen des klassischen Altertums ihr Leben heiter und glücklich gelebt haben. Geist und Natur, sittliches Verhalten und ungezwungene Sinnenhaftigkeit waren – ihrer Vor- stellung nach – bei den Griechen keine Gegensätze, sondern bildeten eine beglückende Harmonie. Zu dieser Harmonie wollten die Klassiker den innerlich zerrissenen Menschen ihrer Zeit mit Hilfe der Kunst führen. Durch Einsicht in sein sittliches Tun soll sich der Mensch dem Ideal der Humanitas 1 nä- hern. Was über die vergängliche Zeit hinaus Gültigkeit hat, wie die Idee der Humanität, das ist wahr. Wahr sind auch die Ausdrucksformen der Kunst, die sich über die Jahrhunderte hinweg als fruchtbar erwiesen haben. Epik, Lyrik und Dramatik sind nach Goethe „Naturformen“ der Dichtung. Um diesem ewig Wahren, dem zeitlos Gültigen zu dienen, muss sich der Künstler „mit Geist und Fleiß“ (Goethe) an die Tradition binden. Eine solche Bindung kann nicht ohne Selbstbeschränkung geschehen. Der klassische Dichter entsagt dem schrankenlosen Subjektivismus des Genies, das sich an seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit berauscht und sich nur sich selbst verpflichtet fühlt. Er entsagt dem ungebändigt überquellenden Gefühl, der ungezügelten Phantasie, den „Gedanken ohne Maß und Ordnung“ (Goethe, Torquato Tasso ), weil nur der maßvolle, sich selbst zügelnde hinwendung zur antike humanitäts und Persönlichkeitsideal Bindung an Gesetz und maß 1 Humanitas: Menschlichkeit ta45j6 die deutSche KlaSSiK | 1786 – 1805 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum es Verlags öbv

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