Killinger Literaturkunde, Schulbuch

13 DAs HELDEnEpos AM BEI spIEL DEs nIBELungEnL IEDEs Mit dem Wort „Epos“ bezeichnet man eine Großform erzählender Dichtung in Versen, die ur- sprünglich mündlich vorgetragen und überliefert wurde. Das Epos gehört zu den ältesten Formen der Dichtung vieler Kulturvölker; es entwickelte sich in einer kriegerisch-aristokratischen Gesellschaft und hat Lebensgewohnheiten und Ideale dieses Standes zum Thema. Im Mittelpunkt der meisten älteren Epen steht der typisierte Held, der Vorbild für die Zuhörenden sein soll (Achill in Homers Ilias und Odysseus in der Odyssee ). Die deutsche ritterlich-höfische Dichtung um 1200 hat zwei Formen des Epos hervorgebracht: das Heldenepos und das höfische Epos. Das Heldenepos bearbeitet germanische Heldenlieder aus der Völkerwanderungszeit, die – bis auf das Hildebrandslied – verloren gegangen sind. Die Heldenepen haben einen historischen Kern, der durch die jahrhundertelange mündliche Weitergabe und die verschiedenen Bearbeitungen der Stoffe stark zurückgedrängt wurde. Dies bezeugt vor allem das bekannteste mittelhochdeutsche Heldenepos, das Nibelungenlied . Sein Verfasser, ein unbekannter Dichter aus dem österreichischen Donautal, verweist in der einleitenden Strophe auf seine Quellen: 2 4 Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grô  er arebeit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten, muget ir nu wunder hœren sagen. In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet: von ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von glücklichen Tagen und Festen, von Schmerz und Klage, vom Kampf tapferer Recken: Davon könnt auch Ihr jetzt Wunderbares berichten hören. Im Nibelungenepos sind zwei ursprünglich voneinander unabhängige Stoffe zu einer Einheit ver- woben: die Sage von Siegfried und Brünhilde, in der mythische Vorstellungen überwiegen, und der Untergang der Burgunden unter ihrem König Gunthari (Gunther) im Kampf gegen die Hunnen im 5. Jahrhundert. Das Nibelungenlied ist in 39 „Âventiuren“ (= Erzählabschnitte) und eine abschließende Klage gegliedert. Dieser letzte Abschnitt bietet eine Deutung des Gesamttextes. Wie Siegfried Kriemhild zum ersten Mal sah Die folgende Textprobe stammt aus der 5. Âventiure „Wie Sîfrit Kriemhilt êrste gesach“. Siegfried ist schon ein volles Jahr bei den Burgunden in Worms, hat aber Kriemhild noch nie gesehen. Da lässt König Gunther aus Freude über den Sieg, den die Burgunden dank Siegfrieds Hilfe über die Sachsen und Dänen haben erringen können, ein Hoffest („hôchgezît“) veranstalten. Zweiunddreißig Fürsten kommen mit ihrem Gefolge zum Fest nach Worms geritten. Die Form des Epos Heldenepos Siegfried-Sage Burgunden-Sage Das Hoffest 271 An einem pnxtmorgen sach man füre gân, gekleidet wünneclîche, vil manegen küenen man, fünf tûsent oder mêre, dâ zer hôhgezît. sich huop diu kurzewîle an manegem ende wider strît. [...] Am Morgen des Pfingstfestes konnte man viele tapfere Helden in wunderbaren Kleidern zum Fest kommen sehen. Es waren wohl fünftausend oder sogar noch mehr. Sie begannen untereinander zu wetteifern, wer sich am besten unterhielt. [...] yv33cf DAS HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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