Killinger Literaturkunde, Schulbuch

112 45 Viertelstunde vergangen, der Nordostwind, der auch seinen Zahn auf die Stadt haben muss, kam uns trefœich zustatten und half die Flammen bis hinauf in die obersten Giebel jagen. Wir indes Gasse auf, Gasse nieder, wie Furien – Feuerjo! Feuerjo! durch die ganze Stadt – Geheul – Geschrei – Gepolter – fangen an die Brandglocken zu brummen, knallt der Pulver- turm in die Luft, als wäre die Erde mitten entzwei geborsten und der Himmel zerplatzt und die Hölle zehntausend Klafter tiefer versunken. 10. Dieser Abschnitt ist typisch für die Dramatik des Sturm und Drang. • Fassen Sie den Inhalt dieser Passage zusammen. • Arbeiten Sie die sprachlichen Merkmale heraus. Karl Moor steht zuletzt vor den Trümmern seiner Existenz und einer in Frage gestellten Welt: Bei seiner Heimkehr entdeckt er den fast verhungerten Vater, der auf die Nachricht, sein Sohn sei ein Räuberhauptmann, stirbt. Der falsche Bruder Franz erhängt sich, Amalie, die Braut Karls, verlangt von ihm den Tod und wird von ihm erstochen. Er selber erkennt seinen Weg als Irrweg und stellt sich den Gerichten, lässt jedoch sein Kopfgeld einem armen Tagelöhner zugute kommen. 1 5 KARL: O über mich Narren, der ich wähnte, die Welt durch Gräuel zu verschönern und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrechtzuhalten! Ich nannte es Rache und Recht – Ich maßte mich an, o Vorsicht, die Scharten deines Schwerts auszuwetzen und deine Parteilichkeiten gutzumachen – da steh ich am Rand eines entsetzlichen Lebens und erfahre nun, dass zwei Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrunde richten würden. 11. Illustrieren Sie, wie Karl Moor in den vorliegenden Textausschnitten charakterisiert wird. Wie unterschiedlich die zeitgenössischen Literatur- und Theaterkritiker die Räuber einschätzten, zei- gen zwei Besprechungen aus den Jahren 1781 und 1785: Christian Friedrich Thimme in der Erfurtischen Gelehrten Zeitung (24. Juli 1781): 1 5 10 Eine Erscheinung, die sich unter der unübersehbaren Menge ähnlicher Sächelchen gar sehr auszeichnet, wahrscheinlich noch fortdauern wird, wenn jene schon in ihr Nichts wieder zurückgegangen sind, noch ehe sie an ngen, recht zu leben. Ich glaube, dass sie deswegen unsere besondere Aufmerksamkeit verdient. Volle, blühende Sprache, Feuer in Ausdruck und Wortfügung, rascher Ideengang, kühne, fortreißende Phantasie, einige hingeworfene, nicht genug überdachte Ausdrücke, poetische Deklamationen 1 und eine Neigung, nicht gern einen glänzenden Gedanken zu unterdrücken, sondern alles zu sagen, was gesagt werden kann, alles das charakterisiert den Verfasser als einen jungen Mann, der bei raschem Kreis- lauf des Bluts und einer fortreißenden Einbildungskraft ein warmes Herz voll Gefühl und Drang für die gute Sache hat. Haben wir je einen deutschen Shakespeare zu erwarten, so ist es dieser. Zeitgenössische Kritik 1 Deklamation: kunstgerechter Vortrag Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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