Killinger Literaturkunde, Schulbuch

104 15 20 – Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und – wenn nicht manchmal die Wehmut das Übergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt, auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen, – so muss ich fort, muss hinaus, und schweife dann weit im Felde umher; einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch einen unweg- samen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir’s etwas besser! Etwas! Und wenn ich vor Müdig- keit und Durst manchmal unterwegs liegen bleibe, manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze, um meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und dann in einer ermattenden Ruhe in dem Dämmerschein hinschlummre! O Wilhelm! die einsame Wohnung einer Zelle, das härene Gewand und der Stachelgürtel wären Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu! Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab. In seinem Abschiedsbrief an Lotte bittet Werther, man möge ihn in der Kleidung begraben, die er bei den Besuchen im Hause ihres Vaters immer trug. In dieser Kleidung fand man auch den Sterbenden, „gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste“. 5. Analysieren Sie die Textausschnitte nach folgenden Gesichtspunkten: Inhalt • Erläutern Sie, um welche Themen Werthers Denken in diesen Ausschnitten kreist. • Vergleichen Sie, zwischen welchen extremen Stimmungen er schwankt. Form • Stellen Sie die Ich-Erzählform im Werther der im Simplicissimus gegenüber. • Beschreiben Sie, welche Folgen für die Perspektive sich daraus ergeben, dass es keine Ant- wortbriefe gibt. Stellen Sie Vermutungen darüber an, wie der/die Leser/in das Geschehen erlebt. • Beurteilen Sie die Möglichkeiten, die diese Form dem Autor eröffnet. • Illustrieren Sie, welche Formen heute dazu verwendet werden, Gefühle unmittelbar darzu- stellen. Die Entstehung eines poetischen Werkes ist unter anderem von biographischen und historischen Bedingungen abhängig, also von den Erlebnissen des Autors und seiner Situation, aber auch von den geistigen und künstlerischen Strömungen der Zeit, von den politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnissen. Für die Entstehung des Werther waren mehrere biographische Fakten ausschlaggebend: 1772 ging Goethe als dreiundzwanzigjähriger Jurist ans Reichskammergericht in Wetzlar. Zu den Männern, mit denen er sich dort anfreundete, gehörte der Sekretär Kestner. Er führte Goethe im Haus des Amt- mannes Buff ein, mit dessen Tochter Charlotte er verlobt war und in die sich Goethe verliebte. „Ich konnte bald ihre Nähe nicht mehr missen“, schrieb er später in Dichtung und Wahrheit . Als ihm klar wurde, dass das Verhältnis von seiner Seite „leidenschaftlicher als billig geworden“ war und ein Kon- flikt aller Beteiligten unabwendbar schien, riss er sich von Lotte los und verließ heimlich die Stadt. Noch war Goethe über die entsagungsvolle Liebe nicht hinweg, da erfuhr er von Kestner vom Selbstmord eines Wetzlarer Bekannten, der sich aus unüberwindlicher Neigung zu einer verheirate- ten Frau erschossen hatte. Goethe war zutiefst betroffen. Er fühlte sich erst nach der Niederschrift des Romans „wie nach einer Generalbeichte wieder froh und frei und zu einem neuen Leben be- rechtigt“. Zur Produktions- geschichte Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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