Killinger Literaturkunde, Schulbuch

102 mindestens ebenso sehr den Protest der Jugend gegen die Väter der Aufklärung, den Protest gegen den Rationalismus und die Unterordnung unter ein streng disziplinierendes System. Prometheus ist das Originalgenie der Sturm-und-Drang-Zeit, stark, unabhängig, sich keiner überkommenen Ge- setzlichkeit unterwerfend, die Welt verändernd. Goethe wollte sich mit dem Gedicht nicht in einen theologischen Streit einmischen, er folgte vielmehr einem Gedanken des englischen Philosophen Antony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, wonach der Dichter ein „zweiter Schöpfer, ein wahrer Prometheus“ sei. So schrieb Goethe 1771 im schon erwähnten Aufsatz Zum Shakespeares-Tag über den englischen Dichter: „Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Men- schen nach [...] und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes.“ Dichter, Originalgenie und Prometheus werden zu einer einzigen Vorstellung von einem dynamischen Menschen. DER BRIEfRoMAn 1774 erschienen Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang Goethe. Der Fünfundzwan- zigjährige hatte sich diesen ersten Roman in vier Wochen von der Seele geschrieben. Das Werk hatte einen so durchschlagenden Erfolg, dass Goethe zeit seines Lebens im In- und Ausland „der Dichter des Werther“ blieb. Die Zeit der Entstehung des Werther -Romans wird im literarischen Bereich auch als Empfindsam- keit bezeichnet: Das gebildete Bürgertum, vor allem die Jugend, durchlebte eine Phase verstärkter Selbstbeobachtung und Analyse der eigenen Gefühle. Nicht äußeren Vorgängen galt das Interesse, sondern man verfeinerte die Fähigkeit der Selbstempfindung bis zur Empfindsamkeit. Werther ist also das Abbild eines Zeittyps, und der Erfolg des Romans ist daher verständlich. Die Handlung wird in Form von Briefen Werthers an seinen Freund Wilhelm mitgeteilt. Da es kei- ne Antwortbriefe gibt, erhalten Werthers Briefe den Charakter von Tagebuchaufzeichnungen. Die Briefform ermöglicht eine subjektbezogene Perspektive: Der Inhalt besteht vor allem aus Selbstbe- obachtung und Analyse der Gefühle. Werther ist kein vor Kraft strotzendes Originalgenie wie die Helden der Sturm-und-Drang-Dramen, sondern ein Genie ohne Kraft und ohne Entschlossenheit. Seine überschwängliche Empfindsamkeit macht ihn innerlich reich, aber auch sehr verletzbar. Er ist seinen wechselnden Stimmungen widerstandslos ausgeliefert. Der Briefroman war als Form damals sehr beliebt: Das lesende Publikum kannte den rührseligen Briefroman Pamela des englischen Schriftstellers und Moralisten Samuel Richardson, 1740, deutsch 1772, und vor allem die Liebesgeschichte Die neue Heloïse oder Briefe zweier Liebenden von Jean-Jacques Rousseau, deutsch 1761 bis 1766 (vgl. Seite 95). Ihnen folgten zahlreiche deutsche Nachahmer. 1 5 Johann Wolfgang Goethe Aus den Leiden des jungen Werthers (1774) Am 10. Mai. Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Früh- lingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Le- bens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glück- lich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft und die Analyse der Gefühle Literarische Vorbilder Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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