Zeitbilder 8, Schulbuch
M1 Zur Bekämpfung der Krise der Europäischen Union grün- deten der deutsche Soziologe Ulrich Beck und der Eu- ropaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit im Mai 2012 das „Manifest zur Neugründung Europas von unten“. Kernge- danke ist ein „freiwilliges europäisches Jahr für alle“. Ein freiwilliges europäisches Jahr soll nicht nur der jüngeren Generation und den Bildungseliten, son- dern allen, auch Rentnern, Berufstätigen, Arbeitslo- sen ermöglichen, in einem anderen Land, einem an- deren Sprachraum ein Stück europäische Zivilgesell- schaft zu verwirklichen (…) Dafür einige Beispiele. Nehmen wir an, das freiwillige europäische Jahr für alle ist bereits Wirklichkeit. Frank Schuster, 44 Jahre alt, Bankangestellter aus Lüneburg, hat ein Jahr lang an einem Umweltprojekt in Athen mitgewirkt und in dieser Zeit Bekanntschaften und Freundschaften ge- schlossen. Er hat erlebt, wie der Mutter eines grie- chischen Freundes mehrfach die Rente gekürzt wur- de, wie Nachbarn auszogen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten, wie Geschäfte in seiner Straße schließen mussten, wie die Menschen sich durch das Spardiktat zutiefst in ihrer Würde verletzt fühlten. Nach Deutschland zurückgekehrt, hörte er fassungs- los, wie in Medien, Politik und Alltag über die „Plei- tegriechen“ hergezogen wird. Während hierzulande der Vorwurf populär ist, die Griechen würden über ihre Verhältnisse leben, hat er das Gegenteil gese- hen: dass immer mehr Menschen in die Armut ab- stürzen (…) Es geht weder um Sozialdienst noch um Sozialarbeit im üblichen Sinn, sondern darum, dass (…) im Miter- leben die Situation der anderen nachvollziehbar wird (…) Es geht also nicht nur darum, den Zusammen- bruch des Euro, sondern auch den Zusammenbruch der europäischen Zivilgesellschaft – der europäi- schen Werte, der Weltoffenheit, der politischen Frei- heit und Toleranz – zu verhindern (…) Um die Krise Europas zu bewältigen, reicht nicht ein Umbau der europäischen Institutionen (Wirtschaftsregierung, Fiskalunion, Brandmauer, Euro-Bonds) (…) Was fehlt, das Europa der Bürger, kann nur von unten wachsen, aus der Zivilgesellschaft selbst. Deshalb brauchen wir ein freiwilliges europäisches Jahr. (Beck, Wir brauchen ein Europa der Bürger, „Die Zeit online, online auf: http://www.zeit.de/2012/23/Manifest-Beck ; 13.9.2012) M2 Der belgische Journalist Paul Huybrechts schlägt zur Be- kämpfung der Euro-Krise eine europaweite Abstimmung vor (2012): Europa kämpft mit drei gigantischen Problemen, die man unter den Begriffen Liquidität [= Verfügbarkeit über genügend Zahlungsmittel; Anm. d. A.], Solvenz [= Zahlungsfähigkeit; Anm. d. A.] und Legitimität [= Rechtmäßigkeit von Institutionen und Personen; Anm. d. A.] zusammenfassen kann (…) die Schulden- krise wird den europäischen Bürgern noch sehr gro- ße Anstrengungen abverlangen. Zunächst, um aus- geglichene Haushalte zu bekommen, denn es macht keinen Sinn, Schuldenabbau zu betreiben, wenn die bestehende riesige Neuverschuldung weitergeht. Und dann ist der schrittweise Abbau der bestehen- den Schuldenlast oberstes Gebot. Wirtschaftswachs- tum würde uns bei diesem Kurs helfen, zusammen mit etwas Inflation, aber für Wachstum ist Vertrauen nötig. Vertrauen in die Zukunft, so wie wir das seit Ende des Krieges gemeinsam gehalten haben. Um das Vertrauen wieder herzustellen und bei den Bür- gern die Bereitschaft zu wecken, für weniger Einkom- men mehr zu arbeiten, benötigt unsere Politik Legi- timität. Sie benötigt ein demokratisches Mandat, das wir alle fünf Jahre erneuern können. Dieses Mandat müssen sie von der gesamten Eurozone bekommen. Die Europäische Union oder zumindest die Eurozo- ne müsste eine politische Union werden. Die Union hätte das letzte Wort bei allen Haushalts- und unter- geordneten Steuerfragen. Innerhalb eines strikten Rahmens hätten die Länder und Regionen weiterhin die Freiheit, Steuern oder Ausgaben zu erhöhen (…) (Huybrechts, Plädoyer für ein europäisches Referendum, 23. August 2012, online auf: http://www.presseurop.eu/de/dontent/article/ 2568551; 13.9.2012) M3 Der deutsche Journalist Marc Brost fordert zur Lösung der EU-Krise die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ (2011): Man kann in dieser Situation im Kleinen verlieren, in Verhandlungsdetails, wie schon seit einem Jahr. So schürte man Misstrauen und fachte die Krise an. Oder man strebt die ganz große Lösung an: die Ver- einigten Staaten von Europa. Was Europa schwächt? Dass es offiziell immer nur ums Geld geht! Denn tatsächlich steckt der Euro weniger in einer ökono- mischen als vielmehr in einer politischen Krise (…) Das alte Denken, das waren die Lebenslügen der EU: Eine Währungsunion werde auch ohne politische Union funktionieren, die Euro-Zone lasse sich quasi „im Nebenjob“ lenken; der Euro werde uns nur wirt- schaftliche Vorteile bringen, ohne auch etwas zu kos- ten. Jetzt aber ist Zahltag (…) Dabei sind die Verei- nigten Staaten von Europa mehr als nur eine Utopie. Denn den Staatenbund nun enger zu schmieden und gemeinsame Staatsausgaben, Steuern, Sozialstan- dards oder Löhne festzulegen würde ja nicht bedeu- ten, auf nationale Traditionen, kulturelle Unterschie- de, verschiedene Lebensniveaus zu verzichten. Auch in Deutschland lebt man in Frankfurt anders als in Berlin, ist Sachsen wettbewerbsfähiger als Sachsen- Anhalt. Es würde aber bedeuten, dass man zusam- men die Zukunft des Kontinents gestaltet, statt (…) zu lamentieren, dass uns dieses „Durchschnittseuro- pa“ wirtschaftlich nach unten zieht. Die Wahrheit ist: Ganz allein ginge es uns viel schlechter. Was Euro- pa so stark macht, ist doch, dass 27 selbstbewusste Nationalstaaten offen genug sind, um voneinander zu lernen. Dass es sozialen Ausgleich gibt und damit gesellschaftliche Stabilität. Und dass seine Bürger 6. Chancen, Problemfelder der EU und EU-Kritik 76 Kompetenzmaterial Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlag öbv
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