Zeitbilder 8, Schulbuch

Ab 2007: Fortsetzung der Großen Koalition Das Ergebnis der Nationalratswahlen 2006 führte zur Bildung einer Großen Koalition: Die SPÖ war mit leich- ten Verlusten mandatsstärkste Partei, die ÖVP im Ver- gleich zu 2002 wieder auf Platz 2 „abgestürzt“ (–8%). Die Strache-FPÖ lag etwa gleichauf mit den Grünen bei 11%, während die bis dahin Regierungspartei BZÖ mit 4,1% gerade noch den Einzug schaffte. Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ) und Vizekanzler Willhelm Molterer (ÖVP) waren sich aber in vielen Sach- und po- litischen Themen nicht einig. Schon nach zwei Jahren beendete die ÖVP die Zusammenarbeit. Bei den Neuwahlen 2008, für die erstmals auch die Sechzehnjährigen wahlberechtigt waren, verloren bei- de Regierungsparteien wieder. Während auch die Grü- nen geringe Verluste einfuhren, legten sowohl die FPÖ (17,5%) als auch das BZÖ (10,7%) sehr stark zu. Den- noch setzten SPÖ (29%) und ÖVP (26%) mit dem neu- en Bundeskanzler Werner Faymann die große Koalition fort. Bei den Nationalratswahlen 2013 – die Legislaturperio- de war von vier auf fünf Jahre verlängert worden – er- zielten SPÖ (mit 26,8%) und ÖVP unter Obmann Mi- chael Spindelegger (mit 24%) ihr schlechtestes Ergeb- nis seit Beginn der Zweiten Republik. Während die FPÖ (20,5%) und die Grünen (12,4%) Stimmen gewinnen konnten, schaffte das BZÖ (3,5%) den Wiedereinzug in den Nationalrat nicht. Das Team Stronach (Liste FRANK), das bei der letzten Wahl nicht angetreten, aber durch Parteiübertritte im Parlament vertreten war, kam auf 5,7%, die NEOS zo- gen mit 5% erstmals in den Nationalrat ein. Wohlstand und Chancengerechtigkeit in Österreich Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Roman Sandgru- ber zog 1995 über Österreichs Entwicklung folgende Bilanz: L Nie vorher hat es einen derart raschen Einkom- menszuwachs und gesellschaftlichen Wandel gegeben wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts. Ein halbes Jahrhundert hat sich die Lebens- situation der Menschen gründlicher verändert als Jahrtausende in früherer Zeit. Die Knappheitsge- sellschaft wurde zur Überflussgesellschaft, die „Al- leszusammensammelgesellschaft“ wandelte sich zur „Wegwerfgesellschaft“. (...) Österreich ist in die Spitzengruppe der wohlhabendsten Staaten dieser Welt vorgestoßen. (...) 1950 zählte Öster- reich unter den späteren OECD-Ländern zu de- nen mit der niedrigsten Pro-Kopf-Produktion. 1992 stand es hinter den USA, der Schweiz, Deutsch- land, Frankreich und Japan in der Spitzengruppe. (Sandgruber, Ökonomie und Politik, 1995, S. 529 f.) Nicht alle Österreicher/innen haben Anteil an diesem Wohlstand (vgl. S. 134 f.). Vor allem die rein statisti- sche Vermögensaufteilung macht deutlich, warum bei den jungen Menschen in Österreich der Wunsch nach Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit besteht: Unternehmensgewinne und Besitzeinkommen stiegen L 2002 verfügten in Österreich die reichsten 10 Prozent über 69 Prozent des Privatvermögens. Für die „unteren“ 90 Prozent blieben 31 Prozent; die durchschnittlichen Pro-Kopf-Vermögen des obersten Prozent waren fast hundertmal höher als die von 90 Prozent der Bevölkerung. (Rathkolb, Die paradoxe Republik, 2011, S. 318) Erörtere die Darstellungen der Historiker Sandgruber und Rathkolb in Bezug auf den Einkommens- bzw. Vermögens- zuwachs und nimm persönlich Stellung dazu. seit den 1990er-Jahren im Vergleich deutlich höher an als die Löhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer. Doch die Einführung neuer Steuern (z. B. auf Vermögen oder Erbschaft) fand bisher keine politische Mehrheit (Stand: 2014). Auch die Arbeitslosen haben kaum Anteil am Wohl- stand. Seit Mitte der 1980er-Jahre lag die Arbeitslo- senrate bei etwa 5 Prozent und pendelte sich zwischen 1995 und 2010 bei etwa 7 Prozent ein (s. Grafik, S. 31). Österreichs Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2014 nach EU-Berechnungsmethode „nur“ 4,9 Prozent und hat da- mit im internationalen Vergleich nach Deutschland die zweitniedrigste in der EU. In absoluten Zahlen erreich- te die Arbeitslosigkeit in Österreich im Jänner 2015 mit 472 539 Menschen (=10,5 Prozent nach nationaler Be- rechnung) einen neuen Rekord in der Geschichte der Zweiten Republik. Daneben stieg aber auch die Zahl der Erwerbstätigen (Selbstständige und Unselbstständi- ge) Jahr für Jahr an. Darin eingerechnet war allerdings die steigende Anzahl der Teilzeit- und geringfügig Be- schäftigten (2009: mehr als 1 Million von knapp 4,1 Mil- lionen Beschäftigten). Soll der Staat sparen oder investieren? Das Problem jedes Finanzministers (zwischen 2011 und 2013: erstmals einer Finanzministerin) sind die Staats- ausgaben. Der Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP hat, ebenso wie in den anderen westlichen Industrielän- Einkommen und Arbeitszeit eines ungelernten Wiener Industriearbeiters pro Woche, 1870 bis 1990 1870 6 (Gulden ÖW) 0,16 37,5 78,0  563,6 1930   56 (Schilling) 0,55 101,8 44,0 1 410,6 1950  231 (Schilling) 2,40 96,3 50,3 1 360,6 1970  961 (Schilling) 6,10 157,5 44,3 2 354,5 1990 5 010 (Schilling) 21,55 232,5 37,7 5 010,0 W  Roman Sandgruber, Was kostet die Welt? Geld und Geldwert in der österreichischen Geschichte; in: Geld. 800 Jahre Münzstätte Wien. Hg. von W. Häusler. Wien 1994, S. 183, 192. – Angaben 1870 in Gulden Österreichischer Währung, ab 1930 in Schilling. durchschnittli- ches Einkom- men/Woche, zeitgenössi- sche Daten Brotpreis pro kg für einen Wochen- lohn erhält man kg Brot Arbeits- zeit/ Woche, Stunden Einkom- men/ Woche in Schilling, Kaufkraft 1989 30 N r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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