Zeitbilder 7/8, Schulbuch

Q Sein Stimmzettel verschwand, den Franz hielten die Dorfbewohner fortan für nicht ganz normal, und als er sich 1943 auch noch weigerte, den Einbe- rufungsbefehl an die Front zu befolgen, weil er Hitler für einen „Anti-Christen“ und dessen Krieg für einen „ungerechten Angriffskrieg“ hielt, lautete das Urteil im Dorf endgültig: Spinner, Glaubensfanatiker, Bi- belforscher, Feigling. Dem Dorf-Urteil folgte bald das Todesurteil der Nationalsozialisten. (Nach Sagmeister, Mein Mann wird ein Heiliger, 1991, S. 22) Bald wurde diese Rolle auf seine Angehörigen übertra- gen, wie die Witwe Jägerstätters erzählt: Q „Das Schwerste“, sagt sie, und der klare Blick ih- rer Augen verschwimmt hinter Tränen, „war mit den Leuten (…).“ Mit den Leuten, die nur Hass und Verachtung übrig hatten für die Hinterbliebenen eines Kriegsdienstver- weigerers und Feiglings. Manche Stalingradkämpfer denken auch heute noch so. Schreiben verbitterte Le- serbriefe an die Kirchenzeitung, dass sie eine Heilig- sprechung Jägerstätters als eine Beleidigung für alle Kriegsversehrten empfinden und dass sie aus der Kir- che austreten werden. „Dass der Franz nach seinem Gewissen gehandelt hat, verstehens halt nicht (…).“ (Nach Sagmeister, Mein Mann wird ein Heiliger, 1991, S. 23) Militärischer Widerstand Schon seit Juni 1944 kämpften Österreicher in der ju- goslawischen Volksarmee Titos. Ihre Motive waren sehr unterschiedlich. Geeint hat sie die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Da ihr Kampf auch vielen unschul- digen Menschen das Leben kostete, ist ihre Beurteilung in der Bevölkerung bis heute umstritten. Anfang 1945 begannen auch in Österreich bewaffnete Aktionen. Schwerpunkte waren Wien, Innsbruck, Teile der Steier- mark sowie Südkärnten, wo vor allem Kärntner Slowe- nen Widerstand leisteten. Der Plan des Major Szokoll, der schon beim gescheiter- ten Staatsstreich Stauffenbergs aktiv mitgewirkt hatte, in Wien die Macht zu übernehmen, scheiterte an Verrat. Er wollte die Stadt kampflos der Roten Armee überge- ben. Dennoch konnte eine Belagerung verhindert wer- den. Ein hoher Offizier meldete im April an Hitler: Q Wien ist nicht zu halten, da der Widerstand der- artig groß ist, dass er nicht zu brechen ist. Der Volkssturm ist in Wien nicht eingerückt. Ich glaube, man kann ihn auch gar nicht einberufen, weil er so- fort auf die SS schießen würde. (Görlich, Grundzüge der Geschichte der Habsburgermonarchie und Österreichs, 1970, S. 318) Noch immer wird da und dort die Meinung vertreten, der österreichische Widerstand wäre im Nachhinein aufgebläht worden, um bei den Staatsvertragsverhand- lungen eine bessere Position zu haben. Der Zeithistori- ker Jagschitz bewertet dies so: Q Es ist nicht angebracht, diesen österreichischen Widerstand zu bagatellisieren. Vor den Son- dergerichten (…) wurden etwa 17 000 Österreicher aus politischen Gründen angeklagt. Dazu kommen noch etwa 20 000–30 000 Häftlinge in Konzentrati- onslagern und mehrere hundert Fälle vor dem Ber- liner Volksgericht. Allein im Wiener Landesgericht wurden etwa 1 000 Personen hingerichtet, in ganz Österreich waren es etwa 1 300, wozu noch die voll- zogenen kriegsgerichtlichen Todesurteile gegen ös- terreichische Wehrmachtangehörige kommen. Noch nicht eindeutig geklärt ist die Zahl der in den Kon- zentrationslagern Umgekommenen – hier werden etwa 15 000 angegeben – und in Gestapogefängnis- sen Ermordeten – wofür die Zahl von nahezu 10 000 genannt wird (...). Unklar ist auch die Zahl der in den letzten Kriegstagen von fliegenden Standgerichten erschossenen, doch beträgt sie sicher einige Tausend. (Jagschitz, Der österreichische Widerstand gegen das nationalsoziali- stische Regime 1938 – 1945, 1978, S. 69 f.) W Erhängte Mitglieder der Gruppe um Major Carl Szokoll (Heeresstreife Wien im Wehrkreiskommando XVII). Die Gruppe wurde verraten und Ma- jor Carl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke am 8. April 1945 öffentlich am Floridsdorfer Spitz gehängt. Erörtere die Aussage des Historikers und versuche eine eigene Bewertung. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Fasse die verschiedenen Formen des Widerstandes zu- sammen und führe dafür konkrete Beispiele an. 95 3 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlags öbv

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