Zeitbilder 7/8, Schulbuch

9. Freiheits- und Widerstandsbewegungen Formen des Widerstandes Der österreichische Historiker Gerhard Jagschitz unter- scheidet fünf Typen von Widerstand: –– Unpolitische Gegnerschaft: Unmutsäußerungen z. B. über die wirtschaftlichen Mangelerscheinungen. –– Politisch motivierte Gegnerschaft: (passive) Abwehr­ haltung gegen das System aus religiöser oder politi- scher Überzeugung; dazu zählt u. a. das verbotene Abhören ausländischer Rundfunksendungen oder die Weitergabe unzensurierter Informationen. –– Ziviler Widerstand: aktive individuelle Widerstands- handlungen im unmittelbaren Arbeits- oder Lebens- bereich. Damit sollte das System des Nationalsozia- lismus mitsamt seinen Funktionären sowie die Wirk- samkeit der angeordneten Maßnahmen geschwächt werden; dazu zählen u.a. die Weitergabe von Flüster- witzen und Untergrundinformationen. –– Organisatorisch abgesicherter Widerstand: Konspira- tion der illegalen politischen Parteien bzw. kirchlicher Gruppen; auch die Arbeit der Emigrantinnen und Emigranten im Ausland gegen das Nazi-Regime zählt dazu. –– Militärischer Widerstand: Sabotage; Partisanentä- tigkeit in den besetzten Ländern (in Österreich: vor allem in Kärnten und der Steiermark); Widerstands- handlungen im Rahmen der deutschen Wehrmacht. „Schutzhaftbefehl“ und Konzentrationslager Für die Nationalsozialisten galt der Grundsatz „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Jede abweichende Ge- sinnung zählte als Hochverrat. Dementsprechend hart waren auch die Reaktionen der Machthaber. Sie reich- ten von der „Schutzhaft“ in den Gefängnissen der Ge- stapo über die Einweisung in Konzentrationslager bis zur Hinrichtung. Dennoch entstand sowohl in Deutsch- land als auch in allen von Hitlerdeutschland besetzten Ländern Widerstand gegen die nationalsozialistischen Machthaber. Kleine Gruppen und Einzelpersonen leis- teten von Anfang an geheimen Widerstand. Es waren vor allem Kommunisten, Sozialisten und Katholiken. Als Verhaftungsgrund genügte die Zugehörigkeit zu einer früheren Partei, eine Anzeige oder (falsche) Be- schuldigung durch einen nationalsozialistischen Funk- tionär, manchmal auch nur ein (unbedachtes) kritisches Wort. Im Krieg gehörte dann auch das Abhören eines ausländischen Senders zu diesen Delikten. Nach einem Verhör durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wur- den die Verhafteten ohne jedes Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit in Konzentrationslager eingeliefert. Diese Konzentrationslager wurden in Selbstverwaltung durch die Häftlinge unter Bewachung der SS-Toten- kopfverbände geführt. Offiziell sprach man von einer Umerziehung im nationalsozialistischen Geist. In Wahr- heit sollte der Widerstandswille der Menschen durch schwerste Arbeit, durch körperliche und seelische Misshandlungen und durch ständige Todesdrohungen gebrochen werden. Jedes Vergehen gegen die überstrenge Lagerordnung wurde mit brutaler Prügelstrafe, die viele Häftlinge nicht überlebten, geahndet. Üblich waren auch Kollek- tivstrafen: Dazu zählte häufig der Entzug des Essens, das schon im Normalfall nicht ausreichend war. Her- mann Lein, der wegen seines Eintretens für die katho­ lische Kirche ins KZ Mauthausen kam, berichtet über seinen Alltag als Häftling: Q Ich musste aus dem Bett, obwohl es noch stock- dunkel war. Rasch ordnete ich mein Bett und lief in den Waschraum, um Gesicht und Hände mit eis- kaltem Wasser notdürftig zu reinigen. Eilig präpa- rierte ich meine schweren Arbeitsschuhe mit stinken- dem Tran und stellte mich zur Ausgabe des Kaffees an. Dieses Getränk hatte mit Kaffee nichts zu tun (...). Leider hatte ich am Vortag meinen Hunger nicht be- zähmen können. So blieb mir für dieses „Frühstück“ nicht ein Bissen Brot. Das schwarze Getränk schuf bloß die Einbildung eines vollen Magens. Wir hat- ten heute immerhin Glück, denn kein SS-Dienstgrad beunruhigte uns durch sein Geschrei, seine Schläge und Fußtritte. Langsam hellte sich der Himmel auf, und wir marschierten zum Appellplatz. Wir stellten uns in Zehnerreihen auf, um leichter gezählt zu wer- den. Heute hatte ich Glück, denn es gelang mir, ei- nen Platz in der Mitte der angetretenen Häftlinge zu gewinnen. Ich war dort ein wenig von den anderen Häftlingsleibern vor dem eisigen Wind geschützt. „Mützen ab“ – ein SS-Dienstgrad meldete dem La- gerführer die Zahl der Schutzhäftlinge – „Mützen auf“ – „Abrücken“. Die Arbeitskommandos stellten sich zu Gruppen zusammen. Mir blieb noch das Pri- vileg einer leichteren Arbeit versagt, ich musste in den Steinbruch. Von bewaffneter SS bewacht, verlie- ßen wir nun in Fünferreihen das Lager. Knapp vor der Stiege, die in den Steinbruch führt, lief plötz- lich ein Häftling aus der Reihe. Der begleitende SS- Dienstgrad griff sofort zur Pistole, steckte sie aber kurz darauf mit einer erleichterten Geste in die Ta- sche zurück. Der Häftling war einige Schritte gelau- fen, um sich über eine Felswand hinunterzustürzen. Er hatte die Qualen des Lagers nicht mehr ertragen und seinem Leben ein Ende gemacht. Die Arbeit im Steinbruch erwies sich oft als sinnlos (...). Heute be- kamen wir die Aufgabe, Steinblöcke von einem Ende des Steinbruches zum anderen zu tragen (...). Der Mittagseintopf war für mich heute eine traurige Angelegenheit: nur Suppenwasser, wenig Steckrüben, keine Fleischbröckchen. Der Tag dehnte und dehnte sich und schien kein Ende zu nehmen (...). Endlich er- tönte der Pfiff zum Antreten. Jeder schulterte einen nicht zu kleinen Steinbrocken und stieg mit einiger Anstrengung die 186 Stufen zum Lager hinauf. Wieder Zählappell! Dann konnten wir in die Baracken gehen. Da hatte ich wieder Glück! Mein Kamerad Hans Eis genoss das Privileg, im Revier zu arbeiten. Er brachte mir ein zusätzliches Stück Brot. Dann suchte ich die grausame Wirklichkeit im Schlaf zu vergessen (...). (Hermann Lein, ehemaliger Autor der Zeitbilder-Reihe) 92 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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