Zeitbilder 7/8, Schulbuch

umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. (Himmler-Rede am 6. Oktober 1943 in Posen; in: Graml, Reichskristall- nacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, 1988, S. 264) Das Todesurteil für Millionen von Jüdinnen und Juden im „Großdeutschen Reich“ und allen anderen besetzten Gebieten war auf höchster Regierungsebene schon lan- ge vorher gefallen. Die Wannsee-Konferenz diente nur noch dazu, mit den höchsten Beamten die Durchführung dieser so genannten „Endlösung“ abzustimmen. Der Österreicher Adolf Eichmann wurde mit der logistischen Abwicklung beauftragt. Seit 1942 rollten unzählige Viehwaggons mit alten und jungen Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager des „Generalgouvernements Polen“. Die tschechoslowakische Jüdin Judith Jaegermann wurde 1943 als Dreizehnjährige gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester nach Auschwitz ge- schickt: Q In Viehwaggone hat man uns hineingestoßen, in Anwesenheit von Eichmann mit den gespreizten, gestiefelten Beinen in tadelloser Uniform (...), nie- mandem wäre es auch nur eingefallen sich zu wei- gern oder sich zu sträuben, in die Waggone einzustei- gen. Es ging alles so unmenschlich schnell vor sich mit Geschrei: „Na los, los ihr Saujuden“ und Gebelle von Hunden aus allen Richtungen. Hauptsache war, dachte ich, wieder mit meiner Familie zusammen zu sein. Zusammen zu sein war für mich das Allerwich- tigste. Die ewige Angst vor dem Ungewissen oder dass man uns auseinanderreißt, das war für mich die Hölle (...). In den Viehwaggonen hörte man nichts anderes als Stöhnen und Weinen und ein Geflüster, dass dieser Transport nach Auschwitz gehen würde. Natürlich wusste absolut niemand etwas Bestimmtes, aber alle hatten ein böses Vorgefühl. Ich weiß heute gar nicht mehr, wie lange wir eigentlich von There- sienstadt nach Auschwitz gefahren sind, aber eine meiner ärgsten Erinnerungen, die mir bis heute noch unvergesslich geblieben ist, war, dass man mitten im Waggon einen „Scheißkübel“ aufgestellt hatte, der als Toilette für Männer, Frauen und Kinder dienen sollte. Es war unmenschlich und entwürdigend. Als wir schon ziemlich nahe an diese mörderische To- desmaschine Auschwitz gekommen waren, hat mein Papa durch eine kleine Öffnung einen Bahnbeam- ten gefragt, ob von hier auch Transporte woanders hingingen, worauf der Beamte nur mit dem Daumen hinauf zum Himmel zeigte und sagte: „Ja, nach da oben durch den Kamin, der 24 Stunden brennt. Dort- hin gehen die Transporte.“ Ich habe dies zufällig mitgehört, und mein armer Papa, als er das hörte, hat sofort Bauchkrämpfe und Durchfall bekommen. Ich habe zusehen müssen, wie mein großer starker Papa, der für mich der Mu- tigste und Stärkste auf der Welt war, sich auf diesen Scheißkübel setzte, mit großer Scham sich die Hose auszog und vor allen Menschen auf diese ernied- rigende Weise aufs Klo ging. Für mich brach die Welt zusammen. Mein Gedanke war sofort, dass wir ins Gas gehen, aber auf welche Weise? Wie würde man uns quälen, bis wir sterben? Schüttel- frost packte mich und auch meinen Papa. Er war sehr deprimiert von jenem Moment an, als er diese Auskunft mit dem Finger nach oben erhielt (…). (Jaegermann, Meine Erinnerungen, 1985, S. 3 f.) Neben ausschließlichen Vernichtungslagern (Treblin- ka, Sobibor u. a.) erreichte das Arbeits- und Vernich- tungslager Auschwitz-Birkenau traurige Berühmtheit. Der Kommandant dieses Lagers, Rudolf Höß, berichtete über den Tötungsvorgang: Q Die zur Vernichtung bestimmten Juden wurden möglichst ruhig – Männer und Frauen getrennt – zu den Krematorien geführt. Im Auskleideraum wurde ihnen durch die dort beschäftigten Häftlinge des Sonderkommandos in ihrer Sprache gesagt, dass sie hier nur zum Baden und zur Entlausung kämen, dass sie ihre Kleider ordentlich zusammenlegen soll- ten und vor allem den Platz zu merken hätten, damit sie nach der Entlausung ihre Sachen schnell wieder finden könnten (...). Nach der Entkleidung gingen die Juden in die Gaskammer, die mit Brausen und Wasserleitungsröhren versehen, völlig den Eindruck eines Baderaumes machte. Zuerst kamen die Frau- en mit den Kindern hinein, hernach die Männer (...). Dies ging fast immer ganz ruhig, da die Ängstlichen und das Verhängnis vielleicht Ahnenden von den Häftlingen des Sonderkommandos beruhigt wurden W Jüdische Frauen und Kinder stehen vor den Viehwaggons, in denen sie nach Auschwitz verschleppt wurden. Die Deutsche Reichsbahn machte ein gutes Geschäft mit den Transporten: Sie stellte der SS genau auf- geschlüsselte Rechnungen über die Kosten der Deportation – die Ver- nichtung der europäischen Juden war bis ins Detail geregelt. Fotografie (Ausschnitt), o.J., United Archives /picturedesk.com . 89 3 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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