Zeitbilder 7/8, Schulbuch

6. Die gescheiterte Demokratie Die letzten freien Wahlen Die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den Jahren nach 1929 trafen auch Österreich mit voller Wucht. Große österreichische Bankinstitute (Unionbank, Bodenkredit- anstalt, Creditanstalt) brachen zusammen. Die Arbeits- losenrate stieg kontinuierlich an. Während der großen Krise fanden im November 1930 Wahlen statt – die letzten freien Nationalratswahlen bis 1945. Der Wahlkampf wurde mit großer Härte geführt. Auch die katholische Kirche mischte sich ein: Die Bi- schöfe veröffentlichten einen Hirtenbrief, in dem sie die Gläubigen zur Stimmabgabe für die Christlichsozialen aufriefen. Die Nationalsozialisten erhielten bei dieser Wahl 100 000 Wählerstimmen. Die Sozialdemokraten wurden zwar zur stärksten Partei, blieben aber in Oppo- sition, da neuerlich eine Bürgerblockregierung (Christ- lichsoziale, Großdeutsche, Landbund) gebildet wurde. Auch diese Regierung scheiterte bald an den wirtschaft- lichen Schwierigkeiten. Dollfuß und die Ausschaltung des Parlamentes Im Mai 1932 wurde der Christlichsoziale Engelbert Dollfuß Bundeskanzler. Seine Regierung hatte sich mitt- lerweile eng an das faschistische Italien angelehnt. Im Nationalrat besaß sie nur eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. Bei einer Abstimmung am 4. März 1933 unterlag die Re- gierungskoalition mit 80 zu 81 Stimmen. Als die Abstim- mung wegen eines Fehlers wiederholt werden musste, legte der sozialdemokratische Erste Nationalratspräsi- dent Karl Renner sein Amt nieder. Dies ermöglichte ihm nämlich, seine Stimme für seine Partei abzugeben. Aber sowohl der Christlichsoziale Zweite als auch der Groß- deutsche Dritte Präsident des Nationalrats legten dar- aufhin ihre Funktion zurück. Ein solcher Vorgang war in der Geschäftsordnung des Nationalrats nicht vorgese- hen. Die Abgeordneten gingen auseinander, ohne dass die Sitzung formell geschlossen wurde. Dollfuß sah nun seine Chance, sich der „Fesseln des Parlamentarismus“ zu entledigen: Eine neuerliche Zu- sammenkunft der Abgeordneten ließ er durch ein Auf- gebot von Kriminalbeamten und Polizei, die das Parla- mentsgebäude umstellten, verhindern. In einem Aufruf „An Österreichs Volk“ erklärte er das Parlament für ge- lähmt und ausgeschaltet. Dollfuß und seine Regierung stützten sich dabei auf eine Notverordnung aus dem Ersten Weltkrieg, das so genannte „Kriegswirtschaftli- che Ermächtigungsgesetz“ (1917). Es war nie aufgeho- ben worden und erlaubte einer Regierung in Notzeiten auch ohne Parlamentsbeschluss an Stelle des Parla- mentes Verordnungen zu erlassen. Damit verbunden waren eine Pressezensur und ein Versammlungsverbot. Bundespräsident Miklas hätte die Bundesregierung entlassen und eine neue ernennen können, er griff je- doch nicht ein. Damit war das Ende der Demokratie in Österreich gekommen. Trotz heftiger Proteste, vor allem seitens der Sozialdemokraten, begann Dollfuß den au- toritären Ständestaat zu errichten. Zunehmender Einfluss des Auslandes Die Sozialdemokraten kamen nun in einen immer schärferen Gegensatz zur Regierung. Aber auch die Nationalsozialisten verstärkten ihren Druck. Sie spür- ten nach der „Machtergreifung“ Hitlers in Deutschland (1933) starken Aufwind und hatten ihre Hoffnungen vergeblich auf Neuwahlen gesetzt. Nun begannen sie, das Land mit einer Welle von Terror- und Sabotageak- ten zu überziehen. Die Regierung reagierte mit dem Verbot der NSDAP (Juni 1933). Darauf verstärkten die Nationalsozialisten ihren Terror gegen Personen, Ver- kehrseinrichtungen und Gebäude weiter. Zur Unterstützung der österreichischen Nationalsozia- listen hatte Hitler schon im Mai 1933 die „1000-Mark- Sperre“ verfügt: Deutsche, die nach Österreich reisen wollten, mussten eine Gebühr von 1000 Mark zahlen (das würde heute mehr als 3000 Euro entsprechen). Dies schädigte die ohnehin geschwächte österreichi- sche Wirtschaft zusätzlich: Der Fremdenverkehr aus Deutschland kam dadurch praktisch zum Stillstand. Gegen diesen Druck der Nationalsozialisten suchte Dollfuß außenpolitische Absicherung beim faschisti- schen Italien. Mussolini verlangte als Gegenleistung die rasche Durchsetzung einer faschistischen Ordnung in der österreichischen Innenpolitik: Die dauernde Aus- schaltung des Parlaments und der Sozialdemokratischen Partei (die Kommunistische Partei war schon verboten) sowie die Förderung der (faschistischen) Heimwehr. Die Gründung der „Vaterländischen Front“ In der 1931 erschienen Enzyklika (=päpstliches Rund- schreiben) „Quadragesimo anno“ von Papst Pius XI. sah Dollfuß eine Grundlage und Legitimierung des autoritä- ren Ständestaates. Wichtige Schritte zu seinem Aufbau waren die Aufhebung bzw. das Verbot von Parteien und die Gründung der „Vaterländischen Front“ im Mai 1933. Diese verstand sich nicht als Partei, sondern als eine überparteiliche Massenorganisation nach Art der faschistischen Parteien. In ihr sollte das österreichische Nationalbewusstsein vertieft werden. Von allen Staats- beamten wurde der Beitritt zur „Vaterländischen Front“ erwartet, viele Organisationen und Vereine traten ge- schlossen über, nicht alle freiwillig. W Der österreichische Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß (li.) auf ei- ner Kundgebung der Vaterländischen Front in Tulln 1934. Rechts ne- ben Dollfuß der Justizminister und spätere Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg, zwischen den beiden Landeshauptmann Josef Reither. 48 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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