Zeitbilder 7/8, Schulbuch

4. Die Radikalisierung der Innenpolitik Politische Gegensätze verhärten sich Die Erste Republik war ab 1920 zunehmend geprägt von der politischen Auseinandersetzung zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten. Jede der beiden großen Parteien wollte ihre „höchsten Wer- te“ mit aller Kraft verteidigen. Für die Christlichsozi- alen waren dies Glaube, Vaterland und die bestehen- de Gesellschaftsordnung. Für die Sozialdemokraten war es der Fortschritt der Menschheit zu einer von der Vernunft bestimmten klassenlosen Gesellschaft. Dabei standen sich die beiden Parteien zunehmend feindlich gegenüber. Es kam so zu einer starken Radikalisierung der gesamten Innenpolitik. Die fanatische Sprache der Politiker wurde von den Anhängern der Gegenpartei- en wörtlich genommen. Dies führte dazu, dass sie sich in ihrer persönlichen und beruflichen Existenz bedroht fühlten. Die Spaltung des österreichischen Volkes in zwei gegnerische Lager gewann dadurch noch an Ge- fährlichkeit, dass sich beide Seiten auf uniformierte und bewaffnete „Selbstschutzverbände“ stützten. Heimwehr und Republikanischer Schutzbund Die Ursprünge der Selbstschutzverbände gehen auf die Umbruchstage des Jahres 1918 zurück. Damals ent- standen im ganzen Land Bauern- und Arbeiterwehren. Sie sollten in jener chaotischen Phase die innere Ord- nung aufrechterhalten. Auch im Kampf um die Gren- zen (Kärnten, Burgenland) wurden sie eingesetzt. Nach dem Ende der Abwehrkämpfe behielten sie zumeist ihre Waffen oder versteckten sie in geheimen Lagern. Die Sozialdemokratie gründete 1923 den „Republika- nischen Schutzbund“. Dieser brachte es bis auf 80000 Mitglieder. Die bürgerlichen Gruppen fürchteten die bessere Organisation der Sozialdemokraten. Auch wa- ren ihre in Ballungszentren arbeitenden und wohnen- den Anhänger rasch verfügbar. Auf bürgerlicher Seite wurde 1924 die „Heimwehr“ bzw. der „Heimatschutz“ als nicht direkt an eine Partei angelehnte Formation gebildet. Sie sollten ein Gegen- gewicht zum Republikanischen Schutzbund bilden. Die Heimwehren waren nach Bundesländern organisiert. Sie waren aber nie so einheitlich wie der Schutzbund und kamen auf etwa 120000 Mann. Ein Grund für diese hohen Mitgliederzahlen dürfte auch in der wirtschaftlichen Situation zu suchen sein: Für viele Arbeitslose war die (geringe) Entschädigung, die sie für ihre Mitarbeit in den Wehrverbänden erhiel- ten, eine Überlebensfrage. „Linzer Programm“ der Sozialdemokratie In dieser gespannten Situation beschlossen die sozial- demokratischen Parteifunktionäre auf ihrem alljährli- chen Parteitag das „Linzer Programm“ (1926). Es fasste die Ideen des „Austromarxismus“ zusammen und war deutlich von der Sprache des radikalen Flügels der Par- tei geprägt: Q Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Eroberung der Herrschaft in der demokrati- schen Republik, nicht um die Demokratie aufzuhe- ben, sondern um sie in den Dienst der Arbeiterklas- se zu stellen, den Staatsapparat den Bedürfnissen der Arbeiterklasse anzupassen und ihn als Macht- mittel zu benützen, um dem Großkapital und dem Großgrundbesitz die in ihrem Eigentum konzent- rierten Produktions- und Tauschmittel zu entreißen und sie in den Gemeinbesitz des ganzen Volkes zu überführen. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie aus- üben. Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse ge- zwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen. (Zit. nach: Frass, Quellenbuch zur österreichischen Geschichte 4, 1967, S. 97 ff.) W Jeden Sonntag marschier- ten die Wehrformationen: Heimwehr (l.) u. Republi- kanischer Schutzbund (r.). Die Aufmärsche wurden als Demonstrationen der Stärke oft in Wohngebiete mit über- wiegend feindlich gesinnter Bevölkerung verlegt. Das Bild links zeigt einen Heim- wehraufmarsch in Wiener Neustadt 1928, das Bild rechts einen Aufmarsch des Republikanischen Schutz- bundes in Eisenstadt 1932. Beide Fotografien wurden vom österreichischen Pres- sefotografen Albert Hilscher aufgenommen. 44 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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