Zeitbilder 7/8, Schulbuch

3. Immer wieder Wirtschaftskrisen Die wirtschaftliche Dauerkrise Das Scheitern der Ersten Republik hat mehrere Ursa- chen. Ein zentraler Grund liegt aber sicherlich an den großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, welche die österreichische Politik nicht lösen konnte. Bereits wäh- rend und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine drastische Nahrungsmittelknappheit. Vor allem Kinder und Jugendliche litten an Hunger und Unterer- nährung. Tausende geschwächte Menschen starben an Tuberkulose und Grippe. Ausländische Organisationen errichteten Suppenküchen und spendeten Nahrungs- mittel, um die krasseste Not abzuwenden. Die herr- schende Arbeitslosigkeit nach Kriegsende wurde noch verschärft durch die zurückkehrenden Soldaten und durch über 100 000 deutschsprachige Beamte, die aus allen Teilen der Monarchie nach Wien strömten. Inflation und „Völkerbund-Anleihe“ Auch die ungeheure Inflation als Folge des wirtschaft- lichen Zusammenbruchs wurde zu einer schweren Be- lastung für die junge Republik. Gelder aus dem Aus- land wurden nicht nur zur Belebung der Wirtschaft gebraucht, sondern vor allem um die immer rascher an Wert verlierende Währung („Hyperinflation“) zu sanie- ren. Im Mai 1922 war Ignaz Seipel zum Bundeskanz- ler ernannt worden. Sein Ziel war die Erlangung einer Anleihe, d.h. eines Kredites, vom Völkerbund. In den „Genfer Protokollen“ vom Oktober 1922 wurde Öster- reich die gewünschte Anleihe zugesagt. Damit verbun- den waren allerdings Bedingungen, die zwar die Sa- nierung der Währung und des Staatshaushaltes garan- tierten, auf Dauer jedoch die österreichische Wirtschaft stark belasteten: –– Österreich musste sich (neuerlich) verpflichten, kei- nen Anschluss an Deutschland anzustreben. –– Zur Sicherstellung der Rück- und Zinsenzahlungen musste Österreich seine Einnahmen aus den Staats- forsten, dem Salz- und Tabakmonopol und den Zöllen verpfänden. –– Österreich musste einen Völkerbundkommissär, wel- cher jede Ausgabe von Geld aus der Anleihe geneh- migen musste, anerkennen. –– Ein drastisches Sparprogramm bei den Staatsausga- ben wurde beschlossen: Dazu gehörten die Auflas- sung von Dienststellen, Auflösung von sozialen Ein- richtungen, Abbau von Beamtinnen und Beamten, Verringerung der Anzahl der Mittelschulen, Erhö- hung der Schulgelder usw. Fasse die Bestimmungen zusammen, welche den Handlungsspielraum der österrechischen Regierungen einschränkten. Die Sozialdemokratische Partei stimmte im National- rat gegen die Genfer Protokolle. Dies geschah nicht nur deshalb, weil der von ihr angestrebte Anschluss an Deutschland neuerlich verboten wurde. Die Sozialde- mokraten fürchteten vor allem wegen der drastischen Sparmaßnahmen einen massiven Abbau der Sozialge- setze, die sie eben erst durchgesetzt hatten. Dies hätte die sozialen Gegensätze in der Gesellschaft verschärft. Die Gegnerschaft zwischen Christlichsozialen und Sozi- aldemokraten vertiefte sich durch die „Völkerbundan- leihe“, auch die Sprache in der Politik wurde radikaler. Dennoch wurde die Sanierung des Staatshaushaltes rasch durchgezogen. Im Dezember 1924 kam der Schil- ling: 10 000 Papierkronen wurden gegen einen Schil- ling umgetauscht. In der Folgezeit richteten die Re- gierungen ihr Hauptaugenmerk auf die Stabilität der Währung und ein ausgeglichenes Budget. Um einer neuerlichen Inflation vorzubeugen, wurde der Geld- umlauf niedrig gehalten („Deflation“). Der Abbau von einem Drittel der Beamtinnen und Beamten verringerte die Ausgaben des Staates, neue Steuern erhöhten seine Einnahmen. Tatsächlich war der Schilling in der Zwi- schenkriegszeit eine überaus harte Währung; er wurde scherzhaft auch als „Alpendollar“ bezeichnet. Die Sparpolitik wirkte sich jedoch negativ auf die Wirt- schaft aus. Besonders die neu eingeführte Umsatzsteuer verursachte eine starke Teuerung: Dies bewirkte einen Rückgang im Konsum, was wiederum einen Rückgang der Produktion zur Folge hatte. Damit verbunden war ein Einbruch bei den Exporten, da österreichische Er- zeugnisse auf dem Weltmarkt zu teuer wurden. Viele Betriebe mussten zusperren. Die ohnehin schon vorhan- dene strukturelle Arbeitslosigkeit nahm weiter zu und wurde zu einer Dauererscheinung in Österreich, auch in der Zeit bis 1929, in der überall in Europa und der Welt gute Konjunktur herrschte: L Nach der Währungsstabilisierung 1922 nahm (…) die Arbeitslosigkeit rasch zu und schwank- te auch in den relativ guten Jahren um die 9%. Selbst 1929, im wirtschaftlich besten Jahr der Zwi- schenkriegszeit, hatte man eine Arbeitslosenrate von 8,8%, die in der Folgezeit auf über 25% an- stieg. Nach 1922 war die österreichische Wirtschaft ständig unterbeschäftigt und der Arbeitsmarkt durch eine chronische Arbeitslosigkeit gekenn- zeichnet (…). Bis 1929 konnte praktisch jeder Ar- beitslose noch mit einer Unterstützung rechnen, 1937 nur mehr jeder Zweite. (Stiefel, Der Arbeitsmarkt in Österreich. Studia Germanica et Au- striaca 2/2002, S. 4 f.) Arbeitslosigkeit als Dauer- und Massenerscheinung In den Jahren 1931/32 kam es in Österreich als Folge der Weltwirtschaftskrise zu einer drastischen Zuspit- zung der Arbeitsmarktsituation: Die Arbeitslosenzahlen stiegen sprunghaft an. Besonders von Erwerbslosigkeit betroffen waren Jugendliche. 1933, auf dem Höhepunkt der Krise, wies die offizielle Statistik 557000 Arbeitslose aus. Rechnet man die Ausgesteuerten (nach der Entlas- sung gab es Arbeitslosengeld und darauf Notstandshil- fe; nach einem Jahr wurde auch diese eingestellt, man 42 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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