Zeitbilder 7/8, Schulbuch

2. Parteien – Sozialgesetzgebung – Verfassung Die Sozialdemokratie In Österreich kam die Sozialdemokratie nach dem Zu- sammenbruch der Monarchie erstmals zu politischer Bedeutung. Sie hatte als einzige politische Gruppe fer- tige Konzepte für die neue Zeit. Es war vor allem Karl Renner, der die Gestaltung eines neuen Österreich maßgeblich bestimmte. Die ideologische Grundlage der österreichischen Sozialdemokratie bildeten die Lehren von Karl Marx. Innerhalb der Partei existierten aller- dings zwei Richtungen: Renner, der Führer des prag- matischen bzw. gemäßigten Flügels, war zu einer brei- ten Zusammenarbeit mit allen demokratischen Parteien bereit. Dabei versuchte er vor allem über neue Sozial- gesetze die Situation der Menschen, vor allem der Ar- beiterinnen und Arbeiter, zu verbessern. Die Vertreter des dogmatischen, radikaleren Flügels wurden auch „Austromarxisten“ genannt, da sie in Schriften und Abhandlungen marxistisches Gedankengut eigenstän- dig weiterentwickelten. Otto Bauer war der wichtigste Vertreter des Austromarxismus. Er strebte im Sinne von Marx eine radikale Änderung der Gesellschaftsordnung an. Allerdings akzeptierte er Gewalt nur als letztes Mit- tel zur Eroberung der Staatsmacht; er befürwortete die demokratische Vorgangsweise in der politischen Aus- einandersetzung. Otto Bauer war sowohl gegen die Zwangsformen des russischen Kommunismus als auch gegen die Beteiligung an einer Regierung unter der Führung bürgerlicher Parteien, in denen er die „Vertre- ter des ausbeuterischen Kapitalismus“ sah. Die Christlichsoziale Partei In ihren Anfangszeiten war die Christlichsoziale Partei durch ein starkes soziales Engagement geprägt. Deswe- gen gelang es ihr auch in Konkurrenz mit den Sozialde- mokraten, Anhänger in der Arbeiterschaft zu gewinnen. Doch unter dem Einfluss der Gewerbetreibenden, die zu ihren Hauptwählern wurden, verwandelte sie sich später in eine bürgerlich-konservative Partei. Obwohl sich die Funktionäre weiterhin der christlichen Sozial- lehre verpflichtet fühlten, wurde diese in der Realität immer weniger umgesetzt. Wie bei anderen Parteien, waren auch bei den Christlichsozialen starke antisemi- tische Tendenzen vorhanden. Die meisten ihrer Funktionäre entstammten dem katho- lischen Vereinswesen, vor allem an den Hochschulen. Auffallend war die große Zahl der Priester, die in der Partei mitarbeiteten. Auch dies verschärfte die Gegner- schaft zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokra- ten, die häufig kirchenkritisch eingestellt waren und eine politische Betätigung von Geistlichen ablehnten. Die Wählerinnen und Wähler der christlichsozialen Par- tei waren zunächst vor allem Bäuerinnen und Bauern und Gewerbetreibende. Aber auch Arbeiterinnen und Arbeiter, besonders aus Kleinbetrieben, in denen die persönliche Verbindung zwischen Unternehmer und Belegschaft extremes Klassendenken ausschloss, wähl- ten christlichsozial. So war die Partei schon ihrer Zu- sammensetzung nach keine fest gefügte Einheit. Auch unter ihren Führern gab es verschiedene Ansich- ten über das Programm und die politische Taktik. Am Beginn der Republik traten der Vorarlberger Jodok Fink und der oberösterreichische Geistliche Hauser als gemäßigte Politiker hervor. Sie arbeiteten erfolgreich mit den Sozialdemokraten zusammen. Später wurde die „Wiener Richtung“ der Partei bestimmend, die als Opposition im „Roten Wien“ kämpferischer und un- duldsamer war. Dieser Gruppe gehörte auch der bedeu- tendste Politiker der Partei an: Ignaz Seipel. Er war Uni- versitätsprofessor und Prälat (= Titel für einen höheren Geistlichen). Die kleinen Parteien Neben der Christlichsozialen Partei wurden noch zwei kleine als „bürgerliche Parteien“ bezeichnet: Aus ver- schiedenen deutschnationalen Gruppen hatten sich 1920 die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund (eine liberale Bauernpartei) gegründet. Für beide Par- teien war das politische Hauptziel der Anschluss an Deutschland. Bei Wahlen erzielten sie nur kleine Stim- menanteile. Mit den von 1920 bis 1933 regierenden Christlichsozialen gingen sie aber verschiedene Koaliti- onsvarianten („Bürgerblock“) ein. Sie hatten daher als „Zünglein an der Waage“ einen größeren Einfluss als ihren Wahlergebnissen entsprochen hätte. Die 1918 gegründete Kommunistische Partei blieb im- mer klein und hatte wenig politischen Einfluss. Die Wahlen von 1920 machten die Christlichsozialen zur stärksten Fraktion. Sie stellten ab nun den Bundeskanz- ler. Die Koalition mit den Sozialdemokraten wurde nicht mehr erneuert. Die Sozialdemokraten blieben als knapp zweitstärkste Partei (bei den Wahlen 1930 erreichten sie sogar die relative Mehrheit) bis zum Ende der Ersten Republik von der Regierungsteilnahme ausgeschlossen. Dadurch gerieten große Teile der Bevölkerung in stän- dige Opposition zu den Regierungen. W Der „Karl-Marx-Hof“ in Wien (Foto, 2008). Der Wiener soziale Wohn- bau wurde in der Zwischenkriegszeit für ganz Europa zum Vorbild. Wien – die Hochburg der Sozialdemokratie – wurde 1922 als eigenes Bundesland aus Niederösterreich herausgelöst. Es stand als „Rotes Wien“ den bürgerlich regierten Bundesländern gegenüber. 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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