Zeitbilder 7/8, Schulbuch

9.4 Mediendemokratie Medien und gesellschaftliche Umbrüche stehen oft in enger Wechselwirkung. Die Träger von neuen politischen und sozi- alen Ideen setzten im Laufe der Geschichte häufig ein neues Medium konsequent ein: In der Renaissance wurde die Malerei zum kritischen Medium, die Ideen der Französische Revolution wurden in ungezählten Flugblättern und Hunderten Zeitungen verbreitet. Die Nationalsozialisten setzten den Volksempfänger und die Kino-Wochenschauen für ihre verbrecherische Propa- ganda ein. In den 1960er Jahren profitierten die schwarzen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler vom Fernsehen. Schon lange leben wir in einer Mediendemokratie, d.h. was wir über Politik wissen, erfahren wir in erster Linie über Massen- medien. Diese haben in den letzten Jahrzehnten einen unge- heuer großen Einfluss auf die Politik gewonnen, man spricht von „Mediatisierung der Politik“ oder gar von „Unterwerfung der Politik unter die Gesetzlichkeiten der Medien“. Unter Mediendemokratie versteht man, dass sich Politik immer mehr an den Wünschen und Vorgaben von Massenmedien orientiert. Oder anders ausgedrückt: Politik findet dann statt, wenn Medien darüber berichten. Das bedeutet beispielsweise, dass Politikerinnen und Politiker sich rechtzeitig an die Redak- tion des ORF wenden müssen, um in die Hauptnachrichten (ZIB 1) zu kommen. Wer sich zu spät an Fernsehen oder Radio wen- det, wird am nächsten Tag in Zeitungen und Zeitschriften nicht erwähnt. Ein anderes Kennzeichen von Mediendemokratie ist die Inszenierung von bestimmten Ereignissen, wie beispielswei- se Wahlkampfauftritte. Ziel ist es, so vorteilhaft wie möglich in den Medien zu erscheinen. Gefährlich wird diese Entwicklung dann, wenn diese Inszenierungen die politischen Inhalte in den Hintergrund drängen. Das Fernsehen war in den letzten Jahrzehnten das Medium, das in unserer Gesellschaft den meisten Einfluss auf unser politisches Bewusstsein ausübte. Man spricht daher auch von „Teledemokratie“. Die wechselseitige Beeinflussung von Politik und Medien hängt mit der großen Bedeutung des Fernsehens zusammen. Sie hat die Politik, ihre Darstellung und Vermittlung stark verändert. Zunehmend bediente sich aber auch die Politik der Medien zur Selbstdarstellung und Themensetzung: L Die Möglichkeiten, die vor allem die szenischen Medien Radio und Fernsehen eröffnen, Politik zu personalisieren, werden von Politikern gern zur erhöhten Selbstdarstellung benutzt, wobei viele ins- besondere den Anschein erwecken, es stehe ihnen mehr positive Gestaltungsmacht zur Verfügung, als es der Wirklichkeit entspricht. Auf diese Weise wer- den immer wieder Erwartungen in das Leistungsver- mögen der demokratischen Politiker enttäuscht. (Saxner, zit. nach: Informationen zur Politischen Bildung 260, 1998, S. 52) Eine Folge der Personalisierung, Inszenierung und Dramati- sierung von Politik durch die Medien ist die Konzentration auf einige wenige Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker und Themen, die für das Publikum als attraktiv eingeschätzt wer- den („agenda setting“). Personalfragen lassen Sachthemen in den Hintergrund rücken. Politikerinnen und Politiker müssen heute „telegen“ sein, sie treten oft in Talkshows auf und lassen sich von persönlichen Image- und Medienfachleuten beraten. Medientermine dominieren ihren Terminkalender, Wahl- kämpfe geraten zu Materialschlachten von Werbeagenturen. Medienprofis wie Italiens ehemaliger Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der als Medienunternehmer das private Fernsehen in Italien dominiert, gelang es in politische Spitzenpositionen aufzusteigen. Die Fernsehkampagnen vor Wahlen in Medien, die sich in Berlusconis Besitz befinden, sind ein Beispiel dafür, dass private Fernsehanstalten die politische Meinungsbildung in ihrem Interesse manipulieren können. Die Medienlogik des Fernsehens bringt es mit sich, dass häufig politische Inhalte ex- trem verknappt werden. Die „KISS-Formel“ („Keep It Short and Simple“) führt dazu, dass beispielsweise aus einer halbstün- digen Rede nur ein Ausschnitt von wenigen Sekunden gezeigt wird. Dadurch können leicht Verkürzungen und Manipulationen von politischen Inhalten entstehen. In manchen Staaten, auch in Österreich, gibt es eine enge Ver- flechtung zwischen Politik und Medien. Diese besteht nicht nur wegen der politischen Inszenierungen. Politik beeinflusst die Medien auch über gezielte öffentliche Werbeeinschaltungen und teilweise direkte Zugriffe (vgl. Kapitel 9.3. „Die Medien- landschaft in Österreich“, S. 272 f.). Zunehmend bedienen sich auch Politikerinnen und Politiker der neuen Medien und sozialer Netzwerke. Wie kein Politiker vor ihm nutzte US-Präsident Obama im Wahlkampf 2008 das Internet: Einen großen Teil seiner Wahlkampfspenden erhielt er auf diesem Weg, via Facebook und Twitter schuf er eine große Fangemeinde, die entscheidend zu seinem Sieg beitrug. Die sozialen Netzwerke führen teilweise zu neuen Machtver- hältnissen. Benjamin Mattausch schrieb 2011 in seinem Artikel „Arabische Revolutionen. Die Macht der Sozialen Medien“: L In den sozialen Medien werden netzartige Machtverhältnisse deutlich, die Herrschaftsre- gime aufbrechen und neue Formen der Partizipati- on und des Widerstandes ermöglichen. Wissen, was im social web via Text, Ton oder Bild vermittelt wird, kann eine Gegenöffentlichkeit schaffen (…). Wäh- rend in den klassischen Medien (Print, Radio oder TV) ein einseitiges, hierarchisches Produzenten-Kon- sumentenverhältnis (…) besteht, produzieren Nutzer in den sozialen Medien ihr eigenes Wissen, das de- zentral und global verbreitet, bewertet und diskutiert werden kann. Dadurch entsteht eine Pluralität von Informationen, die bisherigen medialen Machtbezie- hungen werden aufgelöst. Hinzu kommt, dass auf- grund der anonymen Online-Identität (…) die sozio- ökonomische Lage, die politische Orientierung, die sexuelle Identität, die Herkunft oder die Religion in den Hintergrund treten. (Mattausch, Arabische Revolutionen: Zeit-Online, 18.4.2011) 276 Politische Bildung – Kompetenztraining Nur zu Prüfzwecken – Eigentum de Verlags öbv

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