Zeitbilder 7/8, Schulbuch

6. Die Entwicklung des Familienbildes Die engen gefühlsmäßigen Beziehungen in einer Fami- lie führen dazu, dass man sich grundsätzlich mit diesem Thema nicht unvoreingenommen beschäftigen kann. Die subjektiven Einschätzungen reichen daher von gro- ßer Wertschätzung bis zur kalten Verachtung. L Die Familie ist Quelle und Ursprung der gesam- ten menschlichen Gesellschaft. Der ergiebigste Quell des Guten und des Gemeinwohls. (Papst Leo XIII, Rerum novarum, 1891) L Der bourgeoise Familienkern ist in unserem Jahr- hundert zur endgültigen perfektionierten Form der Nichtbegegnungen geworden. Die Familie wird schwachsinnig. (Cooper, Der Tod der Familie, 1972, S. 7) L Fragt man junge Menschen im Alter von 14-24 Jahren nach der Wichtigkeit verschiedener Le- bensbereiche, so liegen die Familie und der Freun- deskreis seit vielen Jahren an oberster Stelle. Diese sind für junge Menschen attraktive Lebensräume in einer komplexen Welt, denn sie bieten Überschau- barkeit und gefühlsbezogene Geborgenheit. (Kromer, Die Wertewelt junger Menschen in Österreich, 2011, S. 184 f.) Familie – was ist das? Doch die Familie gibt es nicht. Das zeigt heute die Viel- falt von familialen Lebensformen. Lange Zeit hat man in der Familienforschung angenommen, dass die Kern- familie mit der biologischen Elternschaft – das Eltern- paar mit den unmündigen Kindern – die grundlegende Familienform ist. Zwischendurch meinte man, dass die Zweier-Beziehung von Mutter und Kind die Grundein- heit von Familie bildet. Gegenwärtig nehmen aber Ein- Eltern-Familien als Vaterfamilie oder auch Stieffamilien mit dem leiblichen Vater zu. Außerdem muss die Mut- ter- oder Vaterschaft nicht biologisch begründet sein, wenn man etwa an Adoptiv- oder Pflegefamilien, oder an künstliche Befruchtung mit anonymen Samenspen- dern denkt. Wichtig ist die staatliche Anerkennung. Hier wird also die soziale Elternschaft grundlegend. L Von einer Familie kann aufgrund neuerer For- schungen immer erst dann gesprochen werden, wenn die biologische Elternschaft zur sozialen El- ternschaft wird. Durch die Geburt eines Kindes ent- steht noch keine Familie. Sie entsteht erst, wenn zu- mindest eine Person eine Elter-Position übernimmt. Familien werden also durch die Beziehung und die Verantwortungsübernahme von einer Elterngenerati- on gegenüber einem Kind hergestellt. Sie haben auf dieser Grundlage einen lebenslangen Bestand. (Vereinfacht nach: Lenz/Adler, Geschlechterbeziehungen, Bd. 2, 2011, S. 143 ff.) Mittlerweile ist es auch möglich, dass das Elternpaar durchzwei PersonengleichenGeschlechts gebildetwird: Man spricht dabei von „Regenbogenfamilien“. Wenn sich biologische und soziale Elternschaft nicht decken, dann spricht man von „fragmentierter Elternschaft“. Der Soziologe Ulrick Beck charakterisierte die gegen- wärtige Lage pointiert: L Noch in den Sechzigerjahren besaßen Familie, Ehe und Beruf als Bündelung von Lebensplä- nen weitgehend Verbindlichkeit. Inzwischen sind Wahlmöglichkeiten – und Zwänge aufgebrochen. Es ist nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind innerhalb oder außerhalb der Familie empfängt oder aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach einer Karriere oder mittendrin (…). Alle diesbezüglichen Planungen und Absprachen sind prinzipiell aufkündbar (…). Auf die viel diskutierte Frage, ob Ehe und Familie einer aus- klingenden Epoche angehören, lässt sich mit einem klaren JEIN antworten. (Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, 163ff). Familiale Vielfalt in Österreich Der 5. Österreichische Familienbericht (1999-2009) zeigt, dass sich auch in Österreich eine Vielfalt von Fa- milienformen durchgesetzt hat. Das lange Zeit vorherr- schende Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie mit sei- ner geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung verliert immer mehr seine Monopolstellung. Andere Formen des familialen Zusammenlebens gewinnen an Bedeu- Kinderbetreuungsgeldbezieherinnen und -bezieher nach Geschlecht 2008 bis 2010 2008 2009 2008 2009 2010 2008 2009 2010 2010 0 50.000 100.000 150.000 200.000 Insgesamt 166.579 155.605 147.546 160.007 148.282 140.833 6.572 7.323 6.713 Bezieherinnen und Bezieher, Dezember Frauen Männer W Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend. Erstellt am: 18.08.2011. 258 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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