Zeitbilder 7/8, Schulbuch

oder gar die soziale Freiheit abgelei- tet. Freiheit wurde in erster Linie als die innere Freiheit, den Willen Got- tes zu tun, verstanden. Eine weitere Quelle der modernen Menschenrechte liegt in der ständi- schen Freiheitstradition des Mittel- alters. Im mittelalterlichen Feudal- staat war die Macht des Herrschers beschränkt: durch das überkomme- ne Recht, durch Verpflichtungen aus dem Lehensverhältnis und oft durch Verträge mit den Ständen. Diese enthielten häufig die Zusicherung des Fürsten, –– in das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Untertanen nur aufgrund eines Gerichtsurteils einzugreifen; –– keine neuen Abgaben oder Steu- ern ohne die Einwilligung der Stände zu erheben; –– keine Kriege ohne die Zustim- mung der Stände zu beginnen. Verletzte ein Fürst die herkömm- lichen Rechte und Privilegien, musste er damit rechnen, dass sei- ne Untertanen ihm den Gehorsam aufkündigten. Das berühmteste Beispiel für eine mittelalterliche Freiheitsgarantie ist die Magna Charta Libertatum (1215). Renaissance, Humanismus und Aufklärung führten zu einer Säku- larisierung (= Verweltlichung) des Naturrechts. Es wurde nun wie schon in der Stoa aus der Vernunft begründet. Der Holländer Hugo Grotius (1583–1645) gilt als Schöp- fer des modernen Völkerrechts. Er erklärte nämlich, das durch die Ver- nunft gefundene Naturrecht würde auch gelten, wenn es keinen Gott gäbe. Der Mensch wird nun als auto- nome Persönlichkeit verstanden. Er muss daher die Freiheit haben, sein Leben und seine Umwelt in eigener Verantwortung nach der Vernunft zu gestalten. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Wirkung des rationalistischen Naturrechts in den englischen Revo- lutionen des 17. Jahrhunderts. John Milton (1608–1674), Dichter und Se- kretär Cromwells, forderte das Recht der Selbstbestimmung des Menschen in allen Lebensbereichen. Er bezeich- nete die Gewissens- und Religions- freiheit, das Recht auf Eigentum, die Freiheit der Rede und der Presse als Grundrechte des Menschen. Diese Ideen wurden von John Locke (1632–1704) weiterentwickelt. In seinem politischen Hauptwerk „Two Treatises of Government“ (1690) bezeichnete er das Recht jedes Men- schen auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum als ewiges und unver- änderliches Naturrecht. Damit wur- de er nicht nur zum klassischen Ver- treter der Menschenrechte, sondern auch zum Begründer des modernen Liberalismus. Die politische Bedeu- tung der Ideen Lockes war außeror- dentlich stark und reicht bis in die Gegenwart. Ihre Wirkung beruht auf der Annahme, dass der Mensch Rechte besitze, die naturgegeben sind. Der Staat sei überhaupt erst zu ihrer Wahrung eingerichtet. Damit setzte Locke dem Staat jene Gren- zen, die im Liberalismus stark be- achtet wurden: Der Staat ist dazu da, Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger zu schützen. Er kann ihnen diese Rechte nicht nehmen, denn er hat sie ihnen nicht gegeben; sie be- standen schon, ehe er errichtet wur- de. Verletzt er sie, so nimmt er seiner eigenen Existenz die Grundlage. Auf dieser Basis erfolgte schließlich die politische Verwirklichung der grundlegenden Menschenrechte: zunächst in der Unabhängigkeitser- klärung der USA von 1776 und dann in der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und des Bür- gers von 1789. Diesen Beispielen folgten nach und nach immer mehr Staaten und verankerten in ihren Verfassungen die Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger. In Österreich geschah dies im Jahre 1867 mit dem Staats- grundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Im Laufe der Zeit setzte sich eine juristische Auffassung durch, die als Rechtspositivismus bezeichnet wird: Man versteht darunter die Ansicht, dass gültiges (positives) Recht nur das sei, was ein Staat zum Gesetz erhebt. Das bringt aber ein Problem mit sich: L Positives Recht ist auch dann gültig, wenn es gegen funda- mentale Prinzipien der Gerechtig- keit verstößt. (Ucakar/Gschiegl, Das politische System Österreichs und die EU, 2010, S. 21) Auch diktatorische Staaten berufen sich auf die „Rechtmäßigkeit“ ihrer Gesetze. So waren anscheinend die Richter der nationalsozialistischen Volksgerichtshöfe überzeugt davon, „Recht“ zu sprechen, obwohl ihre Rechtsprechung der Menschenwür- de und den Menschenrechten völlig widersprachen. Dies bedeutet also, dass allein das positive Recht kein Garant für eine gerechte gesell- schaftliche Ordnung ist. Die Menschenrechte im Völkerrecht Das Völkerrecht beruht auf der Sou- veränität der Einzelstaaten und be- inhaltet vor allem die Regelung der Beziehungen zwischen den Staaten. Die Beschäftigung eines Staates mit dem Schicksal der Bürgerinnen und Bürger eines anderen wird im Nor- malfall als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet. Ansätze der internationalen Politik, sich dennoch ganz allgemein des Schutzes der Menschen anzuneh- men, zeigten sich schon im Skla- vereiverbot des Wiener Kongresses (1815), in den Haager Friedenskon- ferenzen von 1899 und 1907 und in den Aktivitäten des Völkerbundes. Eine Wende brachten die Enthül- lungen der deutschen Kriegsverbre- chen und des Holocaust im Zweiten Weltkrieg. Erstmals urteilte ein internationales Gericht in den Nürn- berger Prozessen (siehe S. 178) Ver- brechen gegen die Menschlichkeit ab. Es bezog sich dabei auf allge- mein geltendes Menschenrecht. Die Vereinten Nationen Schon in ihrer Gründungsurkunde, der UN-Charta, bekannten sich die Mitglieder der Vereinten Nati- onen im Jahr 1945 zum Schutz der Menschenrechte: Q Ziele und Grundsätze Artikel 1, Abs. 3: eine interna- tionale Zusammenarbeit herbei- zuführen, um internationale Pro- bleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfrei- heiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der 243 X Titel dieser Politikseite Die Entwicklung der Menschenrech Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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