Zeitbilder 7/8, Schulbuch

Schwieriger Neubeginn im Inneren Auf einem Trümmerfeld startete das 1975 unter der siegreichen kommunistischen Führung wiederverei- nigte Vietnam seinen Neuanfang. Ein erstes symboli- sches Zeichen setzte man mit der Umbenennung von Saigon – der bisherigen Hauptstadt Südvietnams – in Ho-Chi-Minh-Stadt. Mit dem Abzug der geschlagenen Amerikaner verließen auch weit über hunderttausend Vietnamesinnen und Vietnamesen das Land in Rich- tung USA. Dort bilden sie heute eine wichtige Min- derheit, und sie stellen zunehmend Kontakte zur alten Heimat wieder her. Vielfachwurde befürchtet, dass die siegreichen Kommu­ nisten in Südvietnam aus Vergeltung ein Blutbad an- richten würden. Diese Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, wohl aber wurden Hunderttausende Vietnamesinnen und Vietnamesen oft viele Jahre in Umerziehungslagern interniert. Einige der im zentralen Hochland Vietnams lebenden ethnischen Minderheiten – insgesamt gibt es in Vietnam 54 anerkannte Minder- heiten –, die während des Vietnamkrieges besonders eng mit den USA kooperierten, stellen sich weiterhin gegen die Kommunisten und werden erbittert verfolgt – sogar über die Grenze nach Laos. Auch gegenwärtig sind sie noch Repressionen ausgesetzt. Hunderttausende Menschen versuchten, in kleinen Booten über das Meer nach China, Hongkong oder auf die Philippinen und die Inseln Indonesiens zu flüchten. Darunter befanden sich auch besonders viele Angehö- rige der chinesischen Minderheit, die im Wirtschaftsle- ben Vietnams eine wichtige Rolle spielten. Viele dieser „boat people“ ertranken bei ihren Fluchtversuchen oder wurden von Piraten auf offener See ausgeplündert und ermordet. Konflikte mit den Nachbarn Kambodscha versuchte, dem vom Krieg geschwäch- ten Land Grenzgebiete zu entreißen, die im 17. Jahr- hundert an Vietnam verloren gegangen waren. Die Volksrepublik China unterstützte diese Aggression. Nachdem Vietnam 1978 mit der Sowjetunion einen Verteidigungsvertrag unterzeichnet hatte, marschier- ten vietnamesische Truppen in Kambodscha ein. Dort wurden sie vielfach als Befreier von dem menschen- verachtenden Terror-Regime Pol Pots und seiner Roten Khmer begrüßt. Dieses Regime hatte während seiner Schreckensherrschaft mindestens zwei Mio. Kambod- schanerinnen und Kambodschaner umgebracht. Das führte zur Bezeichnung „killing fields“ für Kambod- scha. Die Weltöffentlichkeit schwieg damals zu diesen Grausamkeiten. Nach einem durch die UNO vermittel- ten Waffenstillstand zog sich Vietnam 1989 aus Kam- bodscha zurück. China wollte eine Vormachtstellung Vietnams in Südost­ asien allerdings verhindern. Daher fielen chinesische Truppen 1979 im Norden Vietnams ein. Sie mussten sich aber nach heftiger Gegenwehr wieder zurückzie- hen. Das Verhältnis Vietnams zu China ist bis in die Ge- genwart nicht frei von Spannungen. U.a. werden jähr- lich tausende Vietnamesinnen nach China gebracht, um dort den aufgrund der „Ein-Kind-Politik“ entstandenen Frauenmangel auszugleichen. Allmähliche Verbesserung der Wirtschaft Der langjährige Krieg in Kambodscha und die dauern- den Spannungen mit China belasteten die schwierige wirtschaftliche Lage Vietnams zusätzlich. Die Inflations- rate betrug 400 bis 600%. Die landwirtschaftliche Pro- duktion ging nach dem kurzen Aufschwung wieder zu- rück. Um die Wirtschaft zu fördern, wurden ab 1986 Re- formen in Angriff genommen. Sie reduzierten die zen- trale Planung und ließen schrittweise privatwirtschaft- liche Initiativen und Marktwirtschaft zu. 1988 wurde es den bäuerlichen Familien möglich gemacht, frei zu produzieren und ihre Produkte auch frei auf dem Markt zu verkaufen. Die Preise wurden nicht mehr länger vom Staat vorgeschrieben. Darüber hinaus konnten Grund und Boden ge- und verkauft werden. Ebenso wurden ausländische Investitionen und Firmengründungen ge- fördert. Dieses Wirtschaftsprogramm (Doi Moi) führte schließlich dazu, dass die Erträge der Landwirtschaft und die Produktivität der Industrie deutlich anstiegen. Die Wachstumsraten lagen nahe bei 10%. Neue soziale Gegensätze Trotz der sichtbaren wirtschaftlichen Erfolge nahmen die Unterschiede zwischen Reich und Arm in der Be- völkerung zu. Von den Menschen, die ihren Grund und Boden an ausländische Firmen, Hotelketten oder auch an Bodenspekulanten verkauften, konnten viele ihr rasch gewonnenes Vermögen nicht langfristig nutzen. Sie verbrauchten ihr Geld, verarmten und leben jetzt in den großen Städten sozial an den Rand gedrängt. Eine Rückkehr in ihr Dorf ist nicht mehr möglich, da sie dort über keine Existenzgrundlage mehr verfügen. Viele Menschen können mit den neuen Anforderun- gen nicht mithalten und steigen sozial ab. Jene Men- schen aber, die sich in dieser neuen wirtschaftlichen Aufbruchstimmung zurechtfinden, haben Perspektiven. Sie können ihren Lebensstandard verbessern und für die Zukunft planen. Sie finden sich auch mit dem poli- tischen System ab. Nach wie vor Monopol der Kommunistischen Partei Trotz der wirtschaftlichen Erfolge der letzten Jahre be- sitzt die Kommunistische Partei eine Monopolstellung. Eine Liberalisierung und Demokratisierung des poli- tischen Systems kam auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991), dem wichtigsten Verbündeten, nicht in Frage. Vietnam bezeichnet sich offiziell als „So- zialistische Republik“. In ihr sind außer der Kommunis- tischen Partei keine weiteren Parteien zugelassen. Die Presse wird zensuriert und Verhaftungen von politischen Gegnerinnen und Gegnern, aber auch von Umwelt- schutzaktivisten werden noch immer vorgenommen. Andererseits gewährt die Verfassung aus dem Jahr 1992 den Menschen Meinungs- und Religionsfreiheit. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Begründe, warum die Thematik „Vietnamkrieg“ noch heute in unserer Gesellschaft für Aufmerksamkeit sorgt. Beziehe dazu auch die Diskussion um 1968 ein (vgl. S. 248 f). 203 6 Internationale Politik seit 1945 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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