Zeitbilder 7/8, Schulbuch

3.4 Lateinamerika – ein Kontinent im Aufbruch Die beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jh. waren in po- litischer Hinsicht in Lateinamerika dadurch gekenn- zeichnet, dass zahlreiche Staaten nach dem Scheitern der Militärregime wieder zur Demokratie zurückkehr- ten. Diese Entwicklung vollzog sich allerdings auf un- terschiedliche Weise. In Argentinien z. B. musste die Militärregierung nach der Niederlage gegen Großbri- tannien im Krieg um die Malvinen- bzw. Falkland In- seln (1982) die Macht abgeben. In Uruguay, El Salvador und Guatemala geschah dies nach massivem internatio- nalem Druck. In Brasilien, Ecuador, Peru und schließlich auch in Chile zogen sich die militärischen Machthaber mehr oder weniger freiwillig zurück. Die Militärregie- rungen hatten der Mehrheit der Bevölkerung keine Beteiligung am politischen Leben zugestanden. Viel- mehr verübten sie v. a. in Chile und Argentinien mas- sive Menschenrechtsverletzungen. Kritische Personen und Oppositionelle wurden in großer Zahl willkürlich verhaftet, gefoltert und vielfach auch ermordet. Die An- gehörigen wurden zumeist im Unklaren gelassen. Erst nach dem Ende der Diktatur erfuhr man z. B. in Argen- tinien, dass Oppositionelle aus Flugzeugen einfach ins Meer geworfen worden waren. Außerdem verfolgten die Militätdiktaturen wirtschaftlich nur eine Politik des Wachstums ohne Verteilungsgerechtigkeit. Die For- derung nach mehr Mitbestimmung im politischen Le- ben und nach gerechterer Verteilung des Wohlstandes wurde dadurch unüberhörbar. Hinsichtlich der sozialen Verhältnisse in Lateinamerika schreibt der Lateinameri- ka-Experte Hans Werner Tobler: L Etwa 40% der Gesamtbevölkerung Lateinameri- kas wurden in den 1990er Jahren [der Kategorie der Armen] zugerechnet. Ungefähr 6 Mio. Kleinkin- der bis zu fünf Jahren galten als unterernährt; etwa 18 Mio. Kinder im schulpflichtigen Alter besuchten keine Schule; (…) mindestens 95 Mio. Menschen hat- ten keinen angemessenen Zugang zu Trinkwasser; ca. 100 Mio. verfügten nicht über die erforderlichen Gesundheitsdienste. Kinderarbeit war die Regel, Kinderprostitution häufig anzutreffen. (Tobler, Zwischen Beharrung und Aufbruch. Lateinamerika. In: Konrad, /Stromberger (Hg.): Die Welt im 20. Jh. nach 1945, 2010, S. 330) Zu Beginn des 21. Jh. lässt sich eine Vielfalt von Re- gierungsformen erkennen. In Brasilien und Chile z. B. gelangten Regierungen über legale Wahlen an die Macht. Diese vertreten seither ein entschiedenes Re- formprogramm. In Venezuela und Bolivien profilieren sich Regierungschefs wie Hugo Chavez und Evo Mora- les, die militant gegen Imperialismus, Neoliberalismus und Globalisierung auftreten. Dieser Politikstil richtet sich v.a. gegen die USA. Diese hatten in der Vergan- genheit immer wieder in Ländern Lateinamerikas inter- veniert und Regierungen unterstützt bzw. an die Macht gebracht, die ihrem Interesse dienten: Solches war z. B. der Fall 1954 in Guatemala, 1964 in Brasilien, 1965 in der Dominikanischen Republik und 1973 in Chile. Al- lein in Kuba gelang es Fidel Castro 1959, die von den USA unterstützte Diktatur zu stürzen. Insgesamt kann man gegenwärtig von einer deutlich größeren Beteiligung der Bevölkerung in politischen Angelegenheiten sprechen. Dies betrifft auch die bisher weitgehend unbeachtete indigene Bevölkerung, wie z. B. in Bolivien unter dem indigenen Staatspräsidenten Evo Morales. Dennoch weisen die Demokratien in Lateinamerika noch vielfach Defizite auf. Dies gilt v.a. hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und der herrschenden Korruption. Im Bereich der Außenpolitik und der internationalen Wirtschaft haben sich die Möglichkeiten der lateiname- rikanischen Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges erweitert. Es verringerte sich die bisherige Abhängig- keit von den USA, denn Südamerika hat für die USA an geopolitischer Bedeutung verloren. Umgekehrt betonen auch viele Regierungen Lateinamerikas ihre politische Unabhängigkeit von den USA. Überdies weiten sich die Wirtschaftsbeziehungen über die USA und Europa hin- aus auf Süd- und Ostasien aus. Eine gehobene Bedeu- tung erlangte die globale Verflechtung in Umweltfra- gen: Die Auswirkungen der Verschwendung von Res- sourcen, des Raubbaus (z. B. Abholzung der Amazonas- wälder), der Monokulturen (Maisbau für Biosprit) sowie von Megaprojekten (z. B. der Bau des Staudammes von Belo Monte im Nordosten Brasiliens) betreffen mittler- weile nicht mehr nur die Bewohnerinnen und Bewohner Lateinamerikas selbst sondern den gesamten Globus. Argentinien: schwieriges wirtschaft- liches und politisches Erbe Hohe Staatsschulden belasten Wirtschaft und Gesellschaft Ein zentrales Problem Argentiniens stellt die hohe Staatsverschuldung bei der Weltbank, dem IWF und bei privaten Gläubigern dar. Mit der Weltbank, dem IWF und der Interamerikanischen Entwicklungsbank konn- te sich die Regierung Argentiniens auf eine Regelung der Schuldenrückzahlung und weiterer Kredite einigen. Damit verbunden waren aber erhebliche Auflagen. Sie betreffen insbesondere die Konsolidierung der Staatsfi- nanzen sowie eine Reform des Steuersystems und der Banken. Letztere hatten auf dem Höhepunkt der Krise in den Provinzen bereits eine eigene Parallelwährung zur offiziellen staatlichen ausgegeben; eine Maßnahme, die inzwischen wieder aufgehoben wurde. Zur Durchsetzung der eingegangenen Verpflichtungen erließen die Regierung und das Parlament seit 2002 Notstandsgesetze, die der Regierung bedeutende Voll- machten einräumen. Sie betreffen vor allem den Staats- haushalt und die Neugestaltung der Verträge mit jenen Gesellschaften, die Telefon, Transport sowie die Strom- und Gasversorgung betreiben. Alle diese Bereiche wa- ren im Sinne des neo-liberalen Wirtschaftsdenkens pri- vatisiert worden und hatten sich enorm verteuert. Trotz einiger Erfolge ist aufgrund der weltweiten Finanz- und 196 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=