Zeitbilder 7/8, Schulbuch

3.2 Von der Sowjetunion zu Russland Stalins letzte Jahre Die Sowjetunion zählte zu den militärischen Siegern des Zweiten Weltkrieges. Doch die Verluste waren groß. Nach Schätzungen hatten mindestens 25 Millio- nen Menschen ihr Leben verloren. Weite Teile des Lan- des waren verwüstet. Viele sahen in Stalin den „Retter der Sowjetunion“. Der Aufbau neuer Industrien, neuer Bildungs- und Forschungsstätten sowie der Aufstieg der Sowjetunion zur neuen militärischen Weltmacht wur- den ihm zugeschrieben. Doch Stalins Herrschaft (seit 1924) bedeutete vor allem auch Zwang, (Staats-)Terror und Tod. Eine perfekt ausgebaute Geheimpolizei ver- breitete Misstrauen und Angst. 1953 drohte neuerlich eine Verhaftungswelle, ehe Stalin im März starb. Q Auszug aus Stalins Schreckensherrschaft: 1930/31: Deportation von knapp 2 Millionen Bau- ern mit Hunderttausenden Toten. 1932/33: Ca. 6 Millionen Hungertote als Folge der Zwangskollektivierung. 1936–38: Der „Große Terror“ führte zu ca. 1,4 Millionen Verurteilungen und ca. 700 000 Hinrichtungen (darun- ter viele militärische und wirtschaftliche Führungskräf- te sowie Intellektuelle und Parteifunktionäre). 1934–41: Insgesamt 7 Millionen in Lagern Inhaftierte. 1941–43: Ca. 600 000 Tote in den Lagern. 1953: 2,75 Millionen in Lagern Inhaftierte. (Zusammengestellt nach: Das Schwarzbuch des Kommunismus, 1998, S. 165–275) Chruschtschow will Reformen in Partei, Staat und Wirtschaft Nikita Chruschtschow wurde neuer Generalsekre- tär der kommunistischen Partei. Auf dem 20. Par- teitag (1956) verurteilte er den Kult um seinen Vor- gänger und enthüllte einen Teil der von Stalin und seinen Helfern begangenen Verbrechen. Knapp die Hälfte der in der Stalinzeit verhafteten Opfer durf- te aus den (Arbeits-)Lagern wieder in das zivile Le- ben zurückkehren. In der Sowjetunion bestimmte al- lein die Kommunistische Partei die Politik und auch alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie war straff organisiert. Kennzeichnend für die sowjetische Wirtschaft waren zentrale Planung und Verwaltung. Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stand bisher der Auf- bau der Schwerindustrie. Hinsichtlich des Lebensstan- dards der Bevölkerung wies die Sowjetunion jedoch ei- nen großen Rückstand gegenüber dem „Westen“ auf. Daher sollte die Versorgung mit Konsumgütern, Lebens- mitteln und Wohnungen verbessert werden. Die Arbei- terinnnen und Arbeiter erhielten das Recht, ihre Arbeits- plätze zu wechseln. In der Landwirtschaft wurden neue Anbauflächen erschlossen und die Ausrüstung mit Ma- schinen und Traktoren verbessert. Dennoch musste die Sowjetunion weiterhin Jahr für Jahr Getreide importie- ren. Chruschtschows Reformen stießen bei vielen Partei­ funktionären sowie bei der Armeeführung auf Wider- stand. Diese lehnte vor allem eine Senkung der Mili- tärausgaben zugunsten des privaten Konsums ab. Zu- sätzlich schwächten noch außenpolitische Misserfolge wie der Bruch mit China (1960; vgl. S. 192 f.) oder die „Kubakrise“ (vgl. S. 174 f.) Chruschtschows Position. Er wurde 1964 wegen dieser Misserfolge zum Rücktritt ge- zwungen. Breschnew festigt die Staatsmacht erneut – und scheitert Unter dem neuen Parteichef Leonid Breschnew (1964– 1982) wurden die begonnenen Reformen gestoppt und der Druck der Staatsmacht wieder verstärkt. Dies beka- men besonders die Kritiker des sowjetischen Systems, die so genannten Dissidenten, zu spüren. Sie verlangten eine Demokratisierung der Gesellschaft, forderten Mei- nungsfreiheit und protestierten gegen Rechtsverstö- ße durch die Behörden. Die Staatsmacht reagierte mit Berufsverboten, Gefängnis, Zwangsarbeit, Einweisung in psychiatrische Kliniken, Verbannung und Ausbürge- rung. Ende der 1970er-Jahre geriet die sowjetische Wirtschaft in eine tiefe Krise. Spätestens Mitte der 1980er-Jahre erkannten immer mehr Parteifunktionäre, dass die Kri- se in Gesellschaft und Wirtschaft sich nur noch durch grundlegende Veränderungen bewältigen ließe. Perestroika und Glasnost Im Jahr 1985 wurde der Agrarfachmann und Jurist Michail Gorbatschow neuer Generalsekretär der Kom- munistischen Partei. Im Gegensatz zu seinen Vorgän- gern trat er für grundlegende Veränderungen ein – für „Perestroika“ und „Glasnost“: Erstens sollte ein um- fassender Umbau der Wirtschaft (Perestroika) erfolgen. Und zweitens sollten die herrschenden Zustände offen- gelegt und frei kritisiert werden können (Glasnost). Gorbatschow leitete diese Reformen „von oben“ ein. Doch schon lange hatten auch viele Intellektuelle, Kunstschaffende und engagierte Menschen „von un- ten“ auf die Veränderung der herrschenden Zustände gedrängt. 1986 durfte der Atomwissenschafter und Dis- sident Andrej Sacharow aus seiner Verbannung nach Moskau zurückkehren. Viele politische Gefangene wur- den amnestiert, die Werke bisher verbotener Schriftstel- lerinnen und Schriftsteller veröffentlicht. Im Zuge der neuen Offenheit in den Medien geriet auch der Terror der Stalinzeit immer stärker unter Kritik. Q Auf Lastwagen und in Bussen ziehen die Bürger im sibirischen Irkutsk an einem kalten Wintertag des Jahres 1989 vor die (…) Stadt (…). Die antista- linistische „Memorial“-Bewegung und die Gemein- deverwaltung (…) luden zum symbolischen Begräb- nis der kürzlich entdeckten menschlichen Überreste von Opfern eines (…) Lagers aus der Stalinzeit. Der örtliche KGB hatte mitgeholfen, das Massengrab zu finden. Der orthodoxe Pope der Stadt übernimmt die Einsegnung. (Löw, Revolution von oben, 1990, S. 34 f.) 188 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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