Zeitbilder 7/8, Schulbuch

5. „Goldene“ Zwanzigerjahre? So „golden“ waren die Zwanzigerjahre nicht Wenn man von der Zwischenkriegszeit spricht, fällt oft das Schlagwort von den „Goldenen Zwanzigerjahren“. Gemeint ist damit die kurze wirtschaftliche Erholungs- phase von 1924 bis zum Einsetzen der Weltwirtschafts- krise 1929: Die Hyperinflation der ersten Nachkriegszeit konnte durch Währungsreformen (Österreich, Deutsch- land) gestoppt werden. Dadurch kam es nun zu einer leichten wirtschaftlichen Erholung. Auch das politische Klima in Europa beruhigte sich: Putschversuche und bewaffnete Zusammenstöße radikaler Gruppen wurden seltener, eine bessere politische Zusammenarbeit der Staaten machte Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Seit Mitte der Zwanzigerjahre entstanden in Europa durch den Zusammenschluss von Unternehmen gro- ße Konzerne. Amerikanische Firmen bauten riesige Produktionsanlagen, vor allem in Deutschland. Diese Großunternehmen rationalisierten ihre Produktionsme- thoden und sparten dadurch Arbeitskräfte ein. Dies be- deutete für viele Arbeiter/innen weniger Lohn aufgrund der großen Konkurrenz und noch härtere Arbeitsbedin- gungen, vor allem durch den Einsatz von Fließbändern. Ein Arbeiter der deutschen Ford-Fabrik beschreibt 1929 die Fließbandarbeit: Q Für die Arbeiter ist die Hauptsache das Mitkom- men. Das Arbeitsstück fließt weiter, schnecken- gleich langsam zwar – aber es fließt! Die Verzöge- rung des einen bringt den ganzen Betrieb in Unord- nung, lenkt sofort die Aufmerksamkeit aller Kollegen und Vorgesetzten auf den „Bummler“. Kommt ein Arbeiter an einer Stelle nicht recht mit, wird er still- schweigend an eine andere versetzt. Versagt er dort auch, fliegt er ohne jede Förmlichkeit. Das weiß auch jeder und setzt daher den letzten Handschlag daran, dem Tempo des (...) Bandes zu folgen. Da gibt es kei- nen Raum für nebensächliche Gedanken, keine Zeit, etwa eine Zigarette anzuzünden, ein Wort mit dem Nachbarn zu reden oder gar auszutreten. (Zit. nach: Fähnders/Karrenbrock/Rector, Sammlung proletarisch- revolutionärer Erzählungen, 1977, S. 101) Klein- und Mittelbetriebe, die in Summe mehr Men- schen beschäftigten als die Großbetriebe, gerieten we- gen der entstandenen Konzerne in Schwierigkeiten. In den Großstädten entstanden Kaufhäuser. Sie lockten die Kundinnen und Kunden durch raffinierte Werbung und Sonderangebote. Der Einzelhandel geriet dadurch unter großen Konkurrenzdruck. Auch die Landwirtschaft war wegen der hohen Kosten für die Technisierung einem Strukturwandel unterworfen – Zwangsversteigerungen von Bauernhöfen nahmen stark zu. Der wirtschaftliche Wandel zeigte sich auch im gesellschaftlichen Bereich: Die Zahl der Angestellten wuchs kontinuierlich an. Die- se wollten sich durch die Annahme moderner Lebens- gewohnheiten bewusst von den „proletarischen“ Arbei- terinnen und Arbeitern unterscheiden. Neue Möglichkeiten für Frauen Jahrzehntelang hatten vor allem Frauenorganisatio- nen um das Frauenwahlrecht gekämpft. Während des Krieges arbeiteten Frauen auch in Berufen, die bis da- hin als „typisch männlich“ galten – in erster Linie, um die kämpfenden oder getöteten Männer in der Rüs- tungsindustrie zu ersetzen. In den Jahren nach 1918 W Der Einsatz von Fließbändern zur Modernisierung bei Produkt und Produktion wurde in Europa mit Verspätung aus den USA übernommen. Das Foto zeigt die Autoproduktion in den Steyr-Werken am Fließband (Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, o.J.). W In den Familien der Ober- und Mittelschichten hielten nach und nach Elektrogeräte Einzug in den Haushalten. Die Anzeige aus dem Jahr 1929 wirbt für einen Staubsauger der Marke Vampyr, die Frau trägt eine in den Zwanzigerjahren moderne „Bubikopf“-Frisur. Rekonstruiere mit Hilfe der Quelle die Situation der Fließ- band-Arbeiter/innen in der Zwischenkriegszeit. 18 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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