Zeitbilder 7/8, Schulbuch

Der Begriff „Volksdemokratie“ „Volksdemokratie“ bedeutete nach kommunistischer Selbstdefinition eine Übergangsform von der parlamen- tarischen Demokratie zum „Sozialismus“. Dieser Weg war in den sieben betroffenen europäischen Ländern im Wesentlichen durch zwei Phasen gekennzeichnet: –– die Phase vom Kriegsende bis zur Errichtung des kommunistischen Machtmonopols; –– die Phase der Angleichung an das stalinistische Vor- bild Sowjetunion und die Einbindung in den sowje- tisch dominierten „Ostblock“. Der Weg zum kommunistischen Machtmonopol war von Land zu Land verschieden, wies aber auch Gemeinsam­ keiten auf. Anfangs bildeten die Kommunisten nur eine von mehreren politischen Parteien. Neben ihnen bestanden bürgerliche, sozialdemokratische und auch Bauernparteien. Zu ihnen nahmen die Kommunisten Kontakte auf, wobei aus Moskau zurückgekehrte Funk- tionäre eine wesentliche Rolle spielten. In allen diesen Ländern fand der Machtwechsel mithilfe der Polizei, gut organisierter Arbeitermilizen und beeinflusst durch die Sowjetunion statt, teilweise auch unterstützt durch die Rote Armee. Die Errichtung von Volksdemokratien In Ungarn z. B. gewann bei den Wahlen am 4. Novem- ber 1945, die Partei der Kleinlandwirte 57,7% der Stim- men, die Sozialdemokraten erhielten 17,4 % und die Kommunisten 16,7 %. In der neuen Regierung waren alle drei Parteien vertreten. Die Kommunisten trachte- ten danach, Schlüsselpositionen, wie vor allem das In- nenministerium, zu besetzen. Ein führender ungarischer Kommunist erinnert sich: Q Wir waren eine Minderheit in Parlament und Re- gierung, aber zur gleichen Zeit repräsentierten wir doch die führende Macht. Wir hatten die ent- scheidende Kontrolle über die Polizei. Unsere Macht (…) wurde noch vervielfacht durch die Tatsache, dass die Sowjetunion und die Sowjetarmee allzeit bereit waren, uns zu helfen. (Zit. nach: Stelling, „Salami-Taktik“, 1991, S. 46) Die Partei der Kleinlandwirte wurde ausgeschaltet, die Sozialdemokratische Partei mit der KP (zwangs-)verei- nigt. Im August 1949 wurde die „Volksdemokratie“ pro- klamiert. Damit lag die Macht im Staat faktisch in den Händen der KP, auch wenn erst 1952 mit Mátyás Rákosi erstmals ein Kommunist an der Spitze einer neu gebil- deten Regierung stand. Die kommunistische Partei festigte nach internen Machtkämpfen ihre Vormachtstellung. Führende Funk- tionäre fielen Schauprozessen zum Opfer; ca. 50 000 Angehörige des Bürgertums wurden von den Städten aufs Land deportiert. Für Polen bestanden zu Beginn des Jahres 1945 zwei „Regierungen“: eine Exilregierung mit Sitz in London und ein Komitee mit Sitz in Lublin, das die Unterstüt- zung der Roten Armee genoss. Im Juni 1945 wurde dann eine Regierung der „Nationalen Einheit” gebil- det, in der die Mitglieder des Lubliner Komitees eine klare Mehrheit hatten. Ein Mitglied der Exilregierung gründete eine neue Bauernpartei, die rasch große Popu- larität gewann. 1946 zählte sie bereits über 600 000 Mit- glieder, dreimal so viel wie die Kommunistische Partei. Als die Kommunisten für die Wahlen zum Parlament im Jänner 1947 die Bildung einer Einheitsliste vorschlu- gen, wurde dies von der Bauernpartei abgelehnt. Mit- hilfe von Offizieren des sowjetischen Geheimdienstes wurden über hunderttausend Polen verhaftet, ca. einer Million Menschen wurde unter dem Vorwurf der Kol- laboration mit den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges das Wahlrecht aberkannt. Dieser Druck und Manipulationen am Wahltag selbst brachten der von den Kommunisten dominierten Wahlliste ca. 90 % der Stimmen. Ein sowjetischer Marschall wurde Verteidigungsminister. 1952 trat eine Verfassung in Kraft, die das Land zur „Volksdemokratie“ erklärte. Gescheiterte Reformversuche In Polen entwickelte sich im Juni 1956 in Poznan (Po- sen) aus einem Protestmarsch ein Generalstreik. Diesen unterdrückten polnische Sicherheitskräfte gewaltsam. Zahlreiche Tote, Verletzte und Verhaftete waren die Folge. Zu einer Intervention der Sowjetunion kam es allerdings nicht. Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei in der So- wjetunion 1956 hatte großen Einfluss auf die Entwick- lung in den Volksdemokratien. In Ungarn war die Erbitterung gegen die Regierung Rá- kosi und den sowjetischen Einfluss im Land jedoch so groß, dass sich im Oktober 1956 Demonstrationen rasch zu einem Volksaufstand ausweiteten. Eine neue Regie- rung unter dem Reformer Imre Nagy wurde gebildet. Sie ließ wieder mehrere Parteien zu, erklärte schließlich sogar den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität des Landes. Anfang November 1956 schlug die sowjetische Armee mit massiven Panzer- einsätzen den Freiheitskampf nieder. Die Appelle der ungarischen Regierung an die UNO und das westliche Ausland blieben unbeantwortet. Nach dem gewaltsamen Ende der Revolution in Ungarn kamen ca. 200 000 Flüchtlinge nach Österreich. Dazu schreibt der Historiker Manfried Rauchensteiner: L Allein in der Nähe von Andau (…) kamen (…) rund 70 000 Ungarn nach Österreich. (…) Wie- derholt kam es vor, dass der Zug, der die Strecke Kör- mend-Szentgotthárd befuhr, an einer Stelle, wo das Gleis nur etwa 60 Meter jenseits der Grenze verlief, langsamer wurde oder sogar stehen blieb und dann ein beträchtlicher Teil der Passagiere flüchtete (…). (Rauchensteiner, Spätherbst 1956, 1981, S. 93) 1.3 Von der „Volksdemokratie“ zu „Wir sind das Volk“ 172 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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