Zeitbilder 7/8, Schulbuch

nen überfordern, Menschenrechte, Pressefreiheit, rechtsstaatliche Prinzipien entsprechen noch immer nicht den europäischen Standards. Doch letztlich ist die Frage nicht, ob man die Türkei dazu zwingen kann, massive Korrekturen (…) vorzunehmen. Die Frage ist, ob und wie lange sich Europa diese Art von abendländischem Kultursnobismus leisten kann und will. Österreicher und Europäer müssen versuchen, ihr Verhältnis zu Ankara neu zu definieren. Man hat es nicht mit einem Bittsteller zu tun, der alles tun wird, um endlich der Europäischen Union beitreten zu dür- fen, sondern mit einer Regionalmacht, die sicherheits- politisch nicht viel weniger Gewicht hat als die Union und wirtschaftlich über eine Dynamik verfügt, von der die Europäer nur träumen können. Es wird immer un- wahrscheinlicher, dass, aber auch immer unwichtiger, ob die Türkei der EU beitritt oder nicht. Die Position vieler europäischer Regierungen, auch der österreichi- schen, im Umgang mit der Türkei ist so schwach, weil mit verdeckten Karten gespielt wird. Es geht immer nur um die Bedienung kulturell-religiös grundierter, antitürkischer Ressentiments in den eigenen Ländern. (Fleischhacker, Die EU braucht die Türkei mehr als die Türkei die EU, in: Die Presse, 11. 06. 2011) Auch in der Türkei selbst ist die Meinung der Bevölkerung in Zustimmung und Ablehnung gespalten. Die Skepsis, wenn es um einen EU-Beitritt geht, hat sich aber deutlich vergrößert. Staaten wie Serbien, Bosnien, Mazedonien, Albanien, der Uk- raine und Weißrussland streben ebenfalls einen Beitritt zur EU an. Was spricht für und was gegen einen Beitritt dieser Länder? Auch nordafrikanische Staaten wie Marokko und Tunesien, die bisher schon sehr eng mit Europa verbunden sind, wollen die Beziehungen zur EU noch verstärken. Welche Vorgehensweisen sind hier vorstellbar? Souveränität von Staaten contra europäische Integration In der Vergangenheit gab es aber immer wieder Tendenzen in einigen Mitgliedsstaaten nicht anzuerkennen, dass alle Mit- gliedsstaaten einen Teil ihrer Souveränität an die EU abgegeben haben. Häufig wurde umgekehrt die Verantwortung für unpopu- läre Maßnahmen auf die EU abgewälzt. Dies führt teilweise zur einer Schwächung der EU, zu einer Vertiefung der Skepsis vieler EU-Bürger/innen. Die Politikwissenschaftlerin und Universitätsprofessorin Carina Sprungk schreibt: L Zwar befürwortet eine knappe Mehrheit der Bür- ger eine Mitgliedschaft ihres Landes in der EU; gleichzeitig fühlen sich im Jahr 2009 jedoch 53 Pro- zent der Bürger nicht zufriedenstellend repräsentiert. Auch die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parla- ment ging (…) kontinuierlich zurück und erreichte 2009 mit 42 Prozent einen historischen Tiefpunkt (…). Insgesamt hat sich kaum ein europaweiter öffentlicher Raum entwickelt, in dem Bürger an der politischen Herrschaft der EU regelmäßig und aktiv teilnehmen (…). Die Zukunftsaufgabe liegt deshalb in einer Stär- kung der Herrschaftsteilhabe, der die Integration in den Bereichen Sicherheit und Wohlfahrt sinnvoll er- gänzt. Letztlich gilt es damit, eine gemeinsame euro- päische Identität zu schaffen, zu der sowohl nationale als auch europaweite politische Parteien einen wichti- gen Beitrag leisten können. (Sprungk, Sicherheit, Wohlfahrt und Mitgestaltung in der EU, Bundes- zentrale für politische Bildung, 18. November 2009) Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer schrieb bereits 2007: L Europa ist in Industrie und Handel nach wie vor ein Riese, politisch zugleich aber ein zunehmend schrumpfender Zwerg. Das hat schlicht damit zu tun, dass die Größenordnungen des 21. Jahrhunderts mit China, Indien, den USA und Japan selbst die großen europäischen Mächte eines (…) Tages zu kleinen Staa- ten werden lässt (…). Die Welt außerhalb Europas ver- ändert sich schnell und wartet nicht auf die in Selbst- findungsprobleme verstrickten Europäer. Dranbleiben oder abgehängt werden, lautet die gleichermaßen schlichte wie harte Alternative (…). Europa produziert keine Probleme mehr, wird aber auf absehbare Zeit aufgrund seiner Uneinigkeit kaum etwas zur Problem- lösung beitragen können und wollen, so die US-Bilanz (…). Und diese Sicht auf Europa als eine politisch zu vergessende Größe wird in Peking, Moskau und Neu Delhi durchaus geteilt. Angela Merkel, Nicolas Sar- kozy und Gordon Brown haben es jetzt in der Hand zu beweisen, dass sie (…) verstanden haben, dass die europäischen Mitgliedsstaaten ihre Interessen in der Welt des 21. Jahrhunderts nur gemeinsam mittels ei- ner starken EU werden erfolgreich vertreten können. (Fischer, Vergesst Europa?!, in: Der Standard, 31. Mai 2007, S. 43) Fragen und Arbeitsaufträge • Lest den Abschnitt EU-Kritik durch und notiert dann auf ein Plakat stichwortartig Kritikpunkte. Vielleicht fallen euch noch andere Missstände ein. • Recherchiert, welche aktuellen Ereignisse es in Zusam- menhang mit der europäischen Währung gibt. Sammelt dazu auch Zeitungsausschnitte. • Lest die ersten beiden Texte. Unterstreicht die wichtigs- ten Argumente. Diskutiert in der Klasse: Was spricht für und was gegen einen möglichen Beitritt der Türkei? • Lest und besprecht die übrigen Texte. Worin werden in dieser Darstellung die Erfolge der EU gesehen? Welche Defizite machen sich bemerkbar? Macht Vorschläge, mit welchen Maßnahmen man die EU stärken könnte. Projektvorschlag Organisiert für eure Schule einen Aktionstag zum Thema „Wir und Europa“ • Folgende Themen könnten im Mittelpunkt stehen: „Ju- gendliche in Europa“, „Studieren, leben und arbeiten in der EU“, „Probleme und Chancen der EU“… • Präsentation: Plakate, Fotos, Videos, Umfragen erstellen und auswerten, Gäste aus anderen europäischen Län- dern einladen … 161 5 EU-Kritik und Problemfelder N r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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