Zeitbilder 7/8, Schulbuch

5. EU-Kritik und Problemfelder EU-Kritik Die Europäische Union ist als großartiges Friedensprojekt weitgehend unumstritten. In der täglichen Diskussion werden jedoch immer wieder Kritikpunkte vorgebracht: • Eines der Hauptargumente gegen die EU ist laut Umfragen die Furcht vor einem undemokratischen, unkontrollierbaren Superstaat. Auch unter den österreichischen Bürgerinnen und Bürgern gibt es Bedenken, dass zu viele nationale Rechte nach „Brüssel“ abgegeben werden müssten. • Viele Menschen haben das Gefühl, dass die EU-Politik zu wenig Transparenz und Bürgernähe aufweist. Gelegentliche EU-Skandale und Korruptionsfälle tragen zu diesem Unbeha- gen gegen „die da in Brüssel“ bei. • Die Erfolge bei der Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sind bisher bescheiden. • Der EU wird auch Reformunfähigkeit, z. B. in der Agrarpolitik und bei der Subventionsvergabe, vorgeworfen. • Ausnahmeregelungen mancher Staaten auf Kosten der EU führen dazu, dass einige politische Entscheidungen unausge- wogen bzw. nicht sehr effizient sind. • Nur geringe Fortschritte wurden bei der Bekämpfung des Klimawandels und beim Transitverkehr erzielt. • Streit innerhalb der Mitgliedsstaaten gibt es immer wieder wegen der Flüchtlingsströme aus Afrika. EU-Mittelmeer-Län- der werfen den anderen EU-Staaten mangelnde Solidarität und Unterstützung bei diesem Problem vor. Eurozone und „Euro-Krise“ Der Euro galt nach seiner Einführung 2002 lange als stabil. Nach der Finanzkrise ab dem Jahr 2007 zeichnete sich jedoch ab, dass einige EU-Mitgliedsstaaten ihre gigantischen Staatsschul- den nicht mehr selbst bedienen konnten. Im Jahr 2010 musste das hoch verschuldete Irland, ein Jahr später auch Portugal und Griechenland, unter den so genannten EU-Rettungsschirm: Dies bedeutet, dass die EU, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank mit milliardenschweren Ret- tungspaketen den Staats-Bankrott dieser Staaten abzuwenden versuchten, denn eine Staatspleite in der Euro-Zone könnte das Aus für den Euro bedeuten. Mit dem Europäischen Stabilitäts- mechanismus (ESM) wurde ein Krisenfonds geschaffen, der ab 2013 als dauerhafter Rettungsschirm für geschwächte Staaten fungieren soll. Wie und ob diese Maßnahmen erfolgreich waren, lässt sich derzeit (Stand 2012) noch nicht sagen. Auf die Frage nach der Zukunft des Euro geben selbst Expertin- nen und Experten sehr unterschiedliche Antworten: Manche ver- künden das Ende der gemeinsamen Währung, andere glauben, dass bald nur noch einige wirtschaftlich stabile Euro-Kernländer übrig bleiben werden. Einige sehen die Euro-Krise als Chance, endlich zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik innerhalb der EU zu kommen. Die Erweiterung der EU Bevor ein Staat zum EU-Mitglied werden kann, müssen im Rah- men von Beitrittsverhandlungen bestimmte Fragen geklärt und von der EU vorgegebene Standards erfüllt werden. Dazu gehö- ren unter anderem der Aufbau demokratischer Strukturen sowie die Gewährleistung der Einhaltung der Menschenrechte. Auch Minderheitenschutz und Frauenrechte gehören dazu. Korrupti- on, Kriminalität und große Armut können Hinderungsgründe für einen EU-Beitritt sein. Nach der großen Osterweiterung 2004 erhöhte sich 2007 mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens die Zahl der Mitglieder auf siebenundzwanzig. Kroatien soll 2013 Mitglied werden. Der früheste mögliche Beitrittstermin für die Türkei liegt im Jahr 2015. Darüber wird seit Jahren teilweise heftig und sehr kontro- versiell diskutiert. Innerhalb der Bevölkerung in den EU-Staaten gibt es Befüworterinnen und Befürworter und strikte Gegne- rinnen und Gegner eines Beitrittes. Immer wieder wird das Argument vorgebracht, die Türkei sei ein muslimischer Staat und stehe als solcher Europa kulturell viel zu fern. Die Verhand- lungen zwischen der EU und der Türkei gerieten immer wieder ins Stocken, zahlreiche Verhandlungskapitel sind noch blockiert: Die EU wirft der Türkei Defizite bei der Wahrung von Grundrech- ten, besonders in Bezug auf Meinungsfreiheit und Rechten von Frauen und Minderheiten wie den Kurden vor. Ehrenmorde, Zwangsheiraten und häusliche Gewalt sind immer noch ernst- hafte Probleme. Positive Entwicklungen in der Türkei sieht die EU hingegen in der 2010 beschlossenen Verfassungsreform: Sie sieht stärkere Bürgerrechte und mehr zivile Kontrolle über die Armee vor. Auch werden Erfolge der türkischen Behörden beim Vorgehen gegen Folter und Missbrauch registriert. Der ehemalige Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Si- cherheitspolitik der EU, Javier Solana, schrieb 2011 in seinem Artikel „Die Türkei und Europa brauchen einander“: L Die Vorteile eines türkischen Beitritts waren für Europa schon vor dem Arabischen Frühling sicht- bar. Europa ist definitionsgemäß kulturell vielfältig. Daher ist diese Vielfalt Europas Bestimmung. Und wenn Europa ein aktiver globaler Akteur und kein Museum werden soll, bedarf es neuer Perspektiven und der Energie der Menschen in der Türkei (…). Die Türkei und Europa brauchen einander. Auf die EU entfallen 75 Prozent der Auslandsinvestitionen in der Türkei. Etwa die Hälfte der türkischen Exporte geht in Länder der EU, und auch die Hälfte der Touristen in der Türkei kommen aus der EU. Ebenso hängt Europas Energiesicherheit von der Kooperation mit der Türkei im Bereich des Transports von Öl und Erdgas aus Zen- tralasien und dem Mittleren Osten ab. Aber auch innenpolitisch brauchen wir einander. Die Nachbarn der Türkei sind unsere Nachbarn, und die Probleme der Türkei sind unsere Probleme. Die si- cherheitsrelevanten und strategischen Vorteile für die Europäische Union mit der Türkei als Mitglied wären vielfältig, angefangen bei den Beziehungen zwischen der EU und der Nato, der die Türkei schon lange an- gehört. (Solana, Die Türkei und Europa brauchen einander, in: Der Standard, 13. Juni 2011) In der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ schrieb ihr Chefredakteur Michael Fleischhacker: L Die prinzipiellen Einwände, die es gegen einen EU-Beitritt der Türkei gibt, sind und bleiben plau- sibel: Ein Beitritt würde die europäischen Institutio- 160 Politische Bildung – Kompetenztraining Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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