Zeitbilder 7/8, Schulbuch

sitz des Bundeskanzlers) ist Einstimmigkeit erforder- lich. Das zwingt die Sozialpartner zum Kompromiss. Der Ausschluss der Öffentlichkeit erlaubt ihnen außerdem, auch unpopuläre Maßnahmen zu beschließen. Die positiven Auswirkungen dieser Zusammenarbeit zeigten sich jahrzehntelang an, im europäischen Ver- gleich, sehr guten Wirtschaftsdaten sowie fehlenden Arbeitskämpfen (Streiks). Das wechselhafte Verhältnis zwischen Sozialpartnern und Regierung Bis in die 1990er-Jahre war in Österreich der Einfluss der Sozialpartner auf die Politik so stark wie kaum an- derswo in Europa. Seit dem Beitritt zur Europäischen Union werden jedoch wesentliche Entscheidungen der Wirtschaftspolitik (z. B. die Agrar-, Wettbewerbs-, Au- ßenhandels-, Währungspolitik) nur noch gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten getroffen. Zwar sind die österreichischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- vertreter/innen auch in den europäischen Verbänden vertreten. Doch können sie dort ihren Einfluss nicht in solchem Ausmaß geltend machen wie im österrei- chischen Parlament oder in der Bundesregierung. Die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft, die u.a. für Beschäftigung und Wirtschaftswachstum sorgt, aber auch Probleme mit sich bringt (Wettbewerbsdruck, Steuerproblematik etc.) hat seit Beginn der 1990er-Jah- re tendenziell auch die Interessenkonflikte zwischen den Verbänden und der Regierung verschärft. Die ÖVP- FPÖ/BZÖ-Regierungen (zwischen 2000 und 2006) ver- zichteten weitgehend vor allem auf eine Zusammenar- beit mit den Arbeitnehmer/innen-Verbänden: L Erst der Druck von außen (durch den Bundespräsi- denten sowie der medialen Öffentlichkeit) und hef- tige Proteste wie insbesondere der größten Streikakti- vitäten des ÖGB in der Zweiten Republik im Juni 2003 veranlassten die Regierung zu Gesprächen (…). (Talos/Stromberger, Zäsuren in der österreichischen Verhandlungsde- mokratie; in: Karlhofer/Talos, Sozialpartnerschaft, 2005, S. 90) Trotz temporärer Zurückdrängung der Sozialpartner (besonders der Arbeitnehmer/innenseite) bei politischen Entscheidungen seit 2000 sind die Verbände noch im- mer in mehr als hundert Kommissionen, Beiräten und Fonds der staatlichen Verwaltung eingebunden. Sie verwalten die Sozialversicherungsinstitute, sitzen in der Nationalbank, entsenden Vertreter in die Arbeitsgerich- te u. v. m. Dazu kommt noch die Mitwirkung der Sozi- alpartner an der Gesetzgebung – vor allem im Bereich des Arbeitsrechts und der Sozialpolitik. Sie starten Ge- setzesinitiativen, nehmen im Begutachtungsverfahren oder als Abgeordnete im Nationalrat direkt Einfluss auf die Gesetzgebung. Verbändefunktionäre sind bis heute in den Präsidien der beiden größten Parteien vertreten. Sie haben auch immer wieder Ministerposten einge- nommen: So wurde z. B. seit Beginn der Zweiten Re- publik der Posten des Sozialministers fast immer von einem/r ÖGB-Spitzenfunktionär/in besetzt, der Land- wirtschaftsminister kam in ÖVP-Regierungen häufig aus der Landwirtschaftskammer, die Finanzminister meist aus den Arbeitgeberverbänden. Recherchiert, welche Minister/innen der jetzigen Bundes- regierung, welche Mitglieder der Landesregierung eures Bundeslandes aus einem der Verbände stammen. Die Sozialpartner – zwischen Kritik und Zufriedenheit Der österreichische Politologe Emmerich Talos schätzte 2009 die damalige Entwicklung und Leistungen der So- zialpartner in einem Zeitungsinterview so ein: L In den Jahren 2007 bis 2008 ist es zu einem Re- vival [= Wiederbelebung] gekommen. Die Sozi- alpartnerverbände haben in vielen Bereichen Kom- promisse gefunden. Und die Regierung, der ja selbst nicht viel eingefallen ist, hat dieses sozialpartner- schaftliche Zutun auch unbedingt notwendig gehabt. Revival heißt aber nicht eine Wiederkehr der Hoch- blüte der Sozialpartnerschaft der 1960er und 1970er Jahren (…). Die österreichische Gewerkschaftsbe- wegung hat durch die Einbindung in die Sozialpart- nerschaft sehr viel zum Ausbau der Sozialpolitik, zur Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik beigetragen und damit die Lebens- und Arbeitsbe- dingungen der unselbständig Beschäftigten wesent- lich positiv mitgestaltet. Allerdings konnten auch die Unternehmerorganisationen über den Weg der sozi- alpartnerschaftlichen Verhandlungen ihre Ziele ganz anders realisieren als in Italien, wo sie damit rechnen müssen, dass die Gewerkschaften ihre Interessen kämpferischer vertreten. (http://der standard.at/1231151776063/Inter view -mit- Emmerich-Talos-Sozialpartnerschaft-ist-Eliteherrschaft, 16. Jänner 2009; [1. 9. 2011]) Seit den 1990er-Jahren gab es immer wieder Kritik an den Verbänden und manchen ihrer Funktionäre: Bei den öffentlich-rechtlichen Kammern betraf das u.a. die Plichtmitgliedschaft (mit Pflichtbeiträgen), vereinzelt aber auch hohe Funktionärsgehälter. Beim ÖGB äußern die Arbeitnehmer/innen ihre Kritik immer dann, wenn sie mit den von ihren Gewerkschaftern ausgehandelten Lohnabschlüssen nicht zufrieden sind. Letzten Endes aber überwiegen noch immer die Zustim- mung zur Pflichtmitgliedschaft zu den Kammern und die Zufriedenheit mit den Leistungen der Sozialpartner. Und als die Regierung im Jahr 2003 ohne vorherige Ab- sprache mit den Sozialpartnern die Pensionsreform im Parlament beschloss, kam es zu einer von den Gewerk- schaften ausgerufenen Streikaktion, an der sich 780 000 Arbeitnehmer/innen beteiligten. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Beschreibt auch mit Hilfe der Homepages die angeführ- ten Arbeitgeber/innen- und Arbeitnehmer/innenverbände näher. 2. Führt in der Klasse eine Pro- und Contra-Debatte über Formen des Arbeitskampfes. Welche Argumente kann man für, welche gegen die Abhaltung von Streiks anführen? Ar- beitet dabei die unterschiedlichen Arbeitnehmer/innen-, Arbeitgeber/innen- und Regierungsstandpunkte heraus. 135 4 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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