Zeitbilder 7/8, Schulbuch

einer ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung ernannt, obwohl diese offensichtlich vom damaligen Bundespräsiden- ten Thomas Klestil nicht erwünscht war. Trotz seiner verfassungsrechtlich garantierten Ernennungsfreiheit musste er diese Koalition akzeptieren. Eine andere hät- te nämlich keine Mandatsmehrheit im Nationalrat zu- stande gebracht. Allerdings lehnte Klestil damals die Ernennung zweier, vom Bundeskanzler vorgeschlage- ner FPÖ-Minister ab, die dann durch andere Personen ersetzt wurden. Nach Artikel 70 könnte sich ein neuer Bundeskanzler allein seine Minister/innen aussuchen. In der politischen Wirklichkeit aber wird sich der Bundeskanzler bei der Auswahl seiner Minister/innen mit den einflussreichsten Funktionären in der eigenen Partei absprechen müssen. Noch weniger Einflussmöglichkeit hat er auf die Aus- wahl der Regierungsmitglieder bei seinem (möglichen) Koalitionspartner. Alle diese Entscheidungen sind aber durch die Verfassung nicht geregelt. Q Art. 26 (1 u. 4) B-VG Der Nationalrat wird vom Bundesvolk aufgrund des gleichen, unmittel- baren, geheimen und persönlichen Wahlrechts der Männer und Frauen, die spätestens am Tag der Wahl das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grund- sätzen der Verhältniswahl gewählt. (...) Wählbar sind alle zum Nationalrat Wahlberechtigten, die am Stich- tag die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben. – Bei der Wahl zum Nationalrat: Dieser Verfassungsartikel ist offenbar bewusst kurz ge- halten. Er lässt völlig offen, wie ein/e Wahlberechtigte/r wirklich Mitglied des Nationalrates werden kann. Ebenso lässt er den politischen Parteien freie Hand, auf welche Weise sie zur Aufstellung und Reihung ihrer Kandidatinnen und Kandidaten auf den Nationalrats- Wahllisten gelangen. Recherchiere, wie die Kandidatenlisten der einzelnen Parteien in euren Bundesländern für Gemeinderats-, Landtags- und Nationalratswahlen bzw. für die EU-Wahlen erstellt werden. Die Verfassung und ihre vielen Ergänzungen „Die Bundesverfassung ist eine Ruine – innerlich und äußerlich.“ Tatsächlich besteht die österreichische Ver- fassung nicht nur aus dem „Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929“, sondern auch aus einer Vielzahl anderer Rechtsquellen. Sie reichen teil- weise in die Monarchie zurück (z. B. die Grund- und Freiheitsrechte) oder wurden im Laufe der Zweiten Re- publik beschlossen (z. B. Neutralitäts-, Zivildienst-, Da- tenschutz-, Umweltschutzgesetz). Dazu kamen immer wieder Änderungen und Ergänzungen (= Novellen). Die bedeutendste Novelle des Bundes-Verfassungsge- setzes wurde durch den EU-Beitritt notwendig (1994, Bundesgesetzblatt 113). Sie regelt u. a. die Wahlen der österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Par- lament und die Mitsprache- und Einflussmöglichkeiten des Parlaments, der Länder und Gemeinden auf die ös- terreichischen Ratsmitglieder. Sie verpflichtet die öster- reichische Bundesregierung zur umfassenden Informa- tion des Parlaments über die EU-Politik. In der Praxis sind das durchschnittlich 20 000 Dokumente pro Jahr. Keine politische Einigung auf eine neue Verfassung Die Reformbedürftigkeit der österreichischen Verfas- sung führte im Jahr 2003 zur Bildung des „Österreich- Konvents“, der sich aus Vertretern der verschiedenen politischen Körperschaften und Expertinnen und Exper- ten zusammensetzte. Sein Ziel war, Vorschläge für eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform auszuar- beiten, die Verfassung also neu zu formulieren. Der im Jahr 2005 vorgelegte Verfassungsentwurf erhielt jedoch keine Mehrheit im Parlament. Zu unterschiedlich wa- ren die politischen Standpunkte bei vielen Themenbe- reichen (z. B. stärkere Kontrollrechte für das Parlament, verpflichtende Volksabstimmung nach erfolgreichen Volksbegehren, etc.), vor allem auch bei der Kompe- tenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Fasse die Grundprinzipien der österreichischen Bundes- verfassung zusammen. 2. Erkläre den Unterschied zwischen Verfassung und Ver- fassungswirklichkeit am Beispiel der Gesetzgebung und der Regierungsbildung. Stufenbau der Rechtsordnung Stufenaufbau der Rechtsordnung Leitende Prinzipien (Grundprinzipien) der Bundesverfassung Nationalrat Voraussetzung für das Zustandekommen 1 / 2 Anwesenheit, 2 / 3 Zustimmung, Volksabstimmung Primäres Gemeinschaftsrecht Gründungsvertäge der Europäischen Gemeinschaften samt Anhängen und Protokollen sowie deren späteren Ergänzungen und Änderungen Sekundäres Gemeinschaftsrecht das von den Organen der Europäischen Gemeinschaften nach Maßgabe der Gründungsverträge erlassene Recht wie insbesondere Verordnungen und Richtlinien „Einfaches“ Bundesverfassungsrecht Nationalrat Voraussetzung für das Zustandekommen 1 / 2 Anwesenheit, 2 / 3 Zustimmung Bundesgesetz Nationalrat Voraussetzung für das Zustandekommen 1 / 3 Anwesenheit, unbedingte Mehrheit Verordnung Verwaltungsbehörde Bescheid, Urteil Verwaltungsbehörde, Gericht Hier kann es zur zwangsweisen Durchsetzung (Exekution) kommen (Vollstreckungsakte). Landesverfassungs- recht Landtag Voraussetzung für das Zustandekommen 1 / 2 Anwesenheit, 2 / 3 Zustimmung Landesgesetz Landtag W Urbanek, Materialpaket Politische Bildung, 2002, S. 3. 129 4 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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