Zeitbilder 7/8, Schulbuch

Was die „Verfassung“ regelt ... Fragt man Jugendliche in den Maturaklassen oder Stu- dierende an den Universitäten, was sie unter „Verfas- sung“ verstehen, gibt es die unterschiedlichsten Ant- worten. Der Rechtsexperte Hans Kelsen, der 1919 mit der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfas- sung beauftragt wurde, formulierte es so: Q Wie immer man den Begriff der Verfassung defi- niert hat, stets tritt er mit dem Anspruch auf, das Fundament des Staates zu begreifen, auf dem sich die übrige Ordnung aufbaut. (Zit. nach: Gerlich/Müller, Grundzüge des politischen Systems Öster- reichs, 1988, S. 25) Das bedeutet: Die österreichische Verfassung bzw. die Bundesverfassungsgesetze bilden die rechtliche Grund- ordnung unseres Staates. In ihr sind festgelegt –– die Staatsform (Republik), –– die Struktur des Staates (Bundesstaat), –– die Bestellung und Aufgaben der Staatsorgane sowie die Festlegung des Regierungssystems, –– Organisation, Wirkungskreis und Verfahrensgrund- sätze der Staatsgewalten (Gesetzgebung, Verwal- tung, Rechtsprechung), –– die Grundrechte. Im hierarchischen System der österreichischen Rechts- ordnung nimmt das Verfassungsrecht den höchsten Rang ein. Um diese Grundlage unseres gesamten Rechtssystems zu schützen, können Verfassungsgeset- ze nur mit einer qualifizierten Mehrheit (= Zweidrittel- mehrheit) bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte aller Abgeordneten beschlossen werden. EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht Durch den Beitritt in die Europäische Union ist Öster- reich seit 1995 in ein übergeordnetes politisches und rechtliches System eingetreten. Seither gelten in Öster- reich zwei Rechtsordnungen, wobei das EU-Recht Vor- rang vor dem nationalen Recht hat und der Europäische Gerichtshof zur höchsten Rechtsprechungsinstanz ge- worden ist. Österreichisches Recht muss daher auf jeder Stufe mit dem „Gemeinschaftsrecht“ vereinbar sein. Das bedeutet einerseits, dass EU-Richtlinien und Ver- ordnungen in nationales Recht umgesetzt werden, und andererseits, dass nationale Gesetze nötigenfalls den EU-Richtlinien und Verordnungen angepasst werden müssen. Über dem EU-Recht stehen jedoch die „Grund- prinzipien der Bundesverfassung“ (vgl. Grafik, S. 129). Die Grundprinzipien der Bundesverfassung Die leitenden Prinzipien (Grundprinzipien) unserer Verfassung stehen im Stufenbau der Rechtsordnung an oberster Stelle. Sie genießen als „Baugesetze“ unserer Staatsordnung besonderen Schutz: Will man sie ändern oder beseitigen, kommt das einer Gesamtänderung der Bundesverfassung (und damit unserer Staatsordnung) gleich und bedarf einer Volksabstimmung – wie das mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union der Fall war. Die Bundesverfassung ist durch folgende Prinzipien ge- kennzeichnet: –– Das republikanische Prinzip Q Art. 1 B-VG Österreich ist eine demokratische Re- publik. Ihr Recht geht vom Volk aus. Entsprechend diesem Prinzip steht an der Spitze des Staates ein auf eine begrenzte Amtszeit gewählter und dem Volk gegenüber politisch verantwortlicher Bun- despräsident (im Gegensatz zu einem durch Erbfolge legitimierten Monarchen mit unbegrenzter Amtsdau- er). Der Bundespräsident kann nur durch eine Volksab- stimmung, welche die Bundesversammlung (National- rat und Bundesrat) verlangen muss, abgesetzt werden. Durch die Verfassungsnovelle 1929 wurde die Stellung des Bundespräsidenten gestärkt. Seither wird er nicht mehr durch die Bundesversammlung auf vier Jahre, sondern direkt durch das Volk für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt. Der Bundespräsident vertritt of- fiziell den Staat nach außen, ernennt und entlässt die Bundesregierung, hat den Oberbefehl über das Bundes- heer, beurkundet die Bundesgesetze, kann Verurteilte begnadigen und gerichtliche Verfahren niederschlagen (s. vor allem Art. 60–69 B-VG). –– Das demokratische Prinzip Es ist neben der grundsätzlichen Bestimmung des Ar- tikel 1 (s. oben) auch in vielen anderen Verfassungsbe- stimmungen sichtbar, wie z. B.: Q Art. 26 (1) B-VG Der Nationalrat wird vom Bun- desvolk (…) nach den Grundsätzen der Verhält- niswahl gewählt. (...) Art. 43 B-VG Einer Volksabstimmung ist jeder Geset- zesbeschluss des Nationalrates (…) zu unterziehen, wenn der Nationalrat es beschließt oder die Mehrheit der Mitglieder des Nationalrates es verlangt. (...) Art. 91 (1) B-VG Das Volk hat an der Rechtsprechung mitzuwirken. Die demokratischen Rechte der Staatsbürgerinnen und -bürger sind vielfältig. Sie wählen den Bundespräsiden- ten, den Nationalrat, die Landtage, die Gemeinderäte und z. T. auch direkt die Bürgermeister/innen. In Volks- abstimmungen entscheiden sie, ob ein vorgeschlagenes Gesetz in Kraft treten soll oder nicht. Ein erfolgreich durchgeführtes Volksbegehren zwingt die Volksvertre- ter/innen, sich im Nationalrat damit auseinanderzuset- zen. Als Laienrichter/innen müssen ausgewählte Staats- bürger/innen auch an der Rechtsprechung (als Schöffin- nen und Schöffen und Geschworene) mitwirken. 11. Die Bundesverfassung – das Fundament des Staates 127 4 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=