Zeitbilder 7/8, Schulbuch

Neutralitätspolitik und umfassende Landesverteidigung Am 14. Dezember 1955 wurde Österreich als „dauernd neutraler“ Staat in die Vereinten Nationen aufgenom- men. In den Jahren nach 1955 fanden die österreichi- schen Regierungen sehr bald zu einer eigenständigen Neutralitätspolitik mit verschiedenen Zielsetzungen: –– eine aktive Außenpolitik der „guten Dienste“: z. B. durch Vermittlung in Konflikten, Übernahme interna- tionaler Aufgaben zur Friedenssicherung (österreichi- sche Soldaten im Einsatz für die UNO), Gastgeber für internationale Organisationen (Wien als drittes UNO- Zentrum) und Konferenzen usw. –– eine Stärkung der Abwehrbereitschaft und Abwehr- fähigkeit Österreichs. Dazu wurde 1975 die „Umfas- sende Landesverteidigung“ beschlossen: Q B-VG Art. 9a (1) Österreich bekennt sich zur um- fassenden Landesverteidigung. Ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach außen sowie die Un- verletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immer währenden Neutralität. (...) (2) Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirt- schaftliche Landesverteidigung. (3) Jeder männliche österreichische Staatsbürger ist wehrpflichtig. Wer aus Gewissensgründen die Erfül- lung der Wehrpflicht verweigert und hievon befreit wird, hat einen Ersatzdienst zu leisten. Das Nähere bestimmen die Gesetze. –– eine ausgewogene Wirtschaftspolitik, um die Abhän- gigkeit von anderen Staaten möglichst klein zu hal- ten. Seit dem Endes des Kalten Krieges (vgl. S. 171), stär- ker noch seit dem Beitritt zur EU im Jahr 1995 wird in Österreich, zum Teil sehr heftig, über die Abschaffung der Wehrpflicht und die Einführung eines Freiwilligen- bzw. Berufsheeres diskutiert. Im Jahr 2010 sprach sich erstmals auch ein amtierender Verteidigungsminister (Norbert Darabos, SPÖ) für ein Berufsheer aus. Neutralität im Wandel L Bis Mitte der achtziger Jahre blieb die Neutralität Österreichs unter österreichischen Völkerrechts- experten unumstritten; (…) Als Doktrin galt, dass ein Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, später EG) jedoch die Neutralität Österreichs gefährden würde (…) Nie zuvor ist soviel über die Neutralität Österreichs diskutiert worden wie in den Jahren vor dem Beitritt zur Europäischen Union und in den Jahren unmittel- bar vor der Jahrtausendwende. Während die Neut- ralitätsbefürworter still geworden sind, wurde die Diktion der Neutralitätsgegner, die in den neunziger Jahren den sofortigen NATO-Beitritt forderten, im- mer radikaler (…). (Rathkolb, Die paradoxe Republik, 2011, S. 203f.) Mehr als zwei Drittel der österreichischen Bevölkerung waren auch noch 2010 für die Beibehaltung der öster- reichischen Neutralität. Sie wurde im Laufe der Zeit zu einem wesentlichen Merkmal der österreichischen Identität: Sie gilt als wichtiger Faktor sowohl für den wirtschaftlichen Aufstieg zu einem der reichsten Staa- ten der Welt als auch für den inneren und äußeren Frie- den unseres Landes. Kritische Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten al- lerdings betrachten die österreichische Neutralität seit dem Beitritt zur Europäischen Union und der Zustim- mung zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheits- politik als völlig ausgehöhlt. Dennoch ist sie noch immer gültiges Verfassungsgesetz (Stand: 2012). Fragen und Arbeitsaufträge 1. Fasse die wesentlichen Artikel des Staatsvertrages zu- sammen. Arbeite den formalrechtlichen Unterschied zwi- schen Staatsvertrag und Neutralitätsgesetz heraus. 2. Erkläre den Zweck der Neutralität. Welche Interpretatio- nen lässt der Passus „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln“ deiner Meinung nach zu?  3. Erörtere Argumente für die allgemeine Wehrpflicht bzw. für ein Berufsheer. Welche Meinungen gibt es in der Klasse zum Wehrersatzdienst („Zivildienst“)? 4. Führt eine Klassendiskussion: „Österreichische Neutrali- tät heute – pro und contra.“ W Österreichische „Blauhelme“ (UNO-Soldaten) auf den Golan-Höhen (Fotografie 2008). 109 4 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum de Verlags öbv

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