Zeitbilder 7/8, Schulbuch

sowjetische Außenminister Molotow wollte eine solche Neutralisierung Österreichs im Staatsvertrag verankert wissen. Das wiederum lehnten die Westmächte strikt ab. Außerdem bestand Molotow auf der weiteren Sta- tionierung alliierter Truppen über den Staatsvertrag hi- naus bis zum Inkrafttreten eines Friedensvertrages mit Deutschland. Durch dieses „Junktim“ (= Verbindung zweier Fragen) schien der Staatsvertrag wieder in wei- te Ferne gerückt zu sein. Der deutsche Bundeskanzler Adenauer lehnte nämlich im Jänner 1955 das sowjeti- sche Angebot für freie gesamtdeutsche Wahlen in ei- nem bündnisfreien Deutschland ab. Und wenige Wo- chen später beschloss es sogar den NATO-Beitritt, was die endgültige Teilung Deutschlands bedeutete. Dennoch kam es am 8. Februar 1955 im Zusammenhang mit einer Regierungsumbildung in der Sowjetunion zu einer überraschenden Wende. Außenminister Molotow erklärte vor dem Obersten Sowjet in einer außenpoli- tischen Grundsatzrede, dass eine weitere Verzögerung eines Staatsvertrages mit Österreich nicht gerechtfer- tigt sei. Wenige Tage später erklärte er außerdem, dass die Sowjetunion nun zur Aufgabe des Junktims bereit sei und das von Figl in Berlin unterbreitete Angebot annehme. Allerdings müssten wirksame Garantien ge- gen einen Wiederanschluss Österreichs an Deutschland geschaffen werden. Noch am selben Tag gab Bundes- kanzler Raab die von Molotow gewünschte Erklärung ab. Daraufhin wurde die österreichische Regierung zu Verhandlungen in Moskau eingeladen. Dort wurde mit dem Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 der Durchbruch zum Staatsvertrag erzielt. Es enthielt neben den Bestimmungen über die Ablöse für die sowjetischen Unternehmungen in Österreich (u. a. 150 Millionen Dol- lar in Waren für die USIA-Betriebe, 2 Millionen Dollar in bar für die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft und 10 Millionen Tonnen Erdöl für die Ölfelder und Ölraffineri- en) ein politisches Tauschgeschäft: –– Die Sowjetunion verspricht den Abschluss des Staats- vertrages und den Abzug der Truppen aus Österreich. –– Österreich verspricht, immer während eine Neutra- lität zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird. Nachdem der österreichische Nationalrat diese Abma- chungen anerkannt hatte und auch die westlichen Be- satzungsmächte zugestimmt hatten, konnte der Vertrag am 15. Mai 1955 im Wiener Belvedere unterzeichnet werden. Nun war das Ziel erreicht. Figl hat es unmit- telbar nach seiner Unterschriftsleistung im Festsaal des Belvedere ausgedrückt: „Österreich ist frei!“ Staatsvertrag und „immerwährende Neutralität“ L Im Staatsvertrag ist von der Neutralität nicht die Rede. Der Zusammenhang zwischen Staats- vertrag und Neutralität ist ein historisch-politischer – mit Blick auf Moskau –, kein rechtlicher. In Artikel 1 heißt es, daß „Österreich als ein souveräner, un- abhängiger und demokratischer Staat wiederherge- stellt“ sei; in Artikel 2 wurde die Wahrung der Unab- hängigkeit Österreichs durch die Alliierten und As- soziierten Mächte anerkannt; in Artikel 3 wurde die Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs durch Deutschland bestimmt; der Artikel 4 enthielt das Verbot des Anschlusses von Österreich an Deutsch- land; in Artikel 5 wurden die Grenzen von Österreich festgeschrieben; in Artikel 6 verpflichtete sich Öster- reich, die Menschenrechte umfassend einzuhalten; in Artikel 7 wurden die slowenischen und kroati- schen Minderheitenrechte festgelegt. (Steininger, 15. Mai 1955: Der Staatsvertrag, 1997, S. 238f.) W Die Staatsvertragsverhandlungen mit sowjetischen Generälen und Politikern im Kreml: Außenminister Figl zum Zither spielenden Bun- deskanzler Raab: „Und jetzt, Raab – jetzt noch d´Reblaus, dann sans waach.“ Berühmte Karikatur von Hanns Erich Köhler im Münchener Sim- plicissimus aus dem Jahr 1955. W Am 15. Mai 1955 nach der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages auf dem Balkon des Wiener Belvedere: Leopold Figl und (von links nach rechts) die Außenminister der Signatarstaaten Pi- nay (Frankreich), Dulles (USA), Macmillan (Großbritannien) und Molotow (Sowjetunion). Beschreibe und interpretiere die Karikatur auch in Bezug auf die den österreichischen Politikern zugeschriebene Verhandlungsstrategie. 107 4 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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