Zeitbilder 7/8, Schulbuch

Auch die Entschädigungsfragen der NS-Opfer blieben viele Jahre ungelöst; vor allem deshalb, weil die öster- reichischen Regierungen ausschließlich am österreichi- schen „Opfermythos“ festhielten. Erst im Jahre 1991 gab der damalige Bundeskanzler Vranitzky im Natio- nalrat eine in aller Welt beachtete Erklärung ab. Erst- mals wurde von Regierungsseite offiziell die „Täterrol- le“ vieler Österreicherinnen und Österreicher während der NS-Herrschaft angesprochen: Q Es ist unbestritten, dass Österreich im März 1938 Opfer einer militärischen Aggression mit furcht- baren Konsequenzen geworden war: Die unmittelbar einsetzende Verfolgung brachte hunderttausende Menschen unseres Landes in Gefängnisse und Kon- zentrationslager, lieferte sie der Tötungsmaschinerie des Nazi-Regimes aus, zwang sie zu Flucht und Emi- gration. Hunderttausende fielen an den Fronten oder wurden von den Bomben erschlagen. Juden, Zigeu- ner, körperlich oder geistig Behinderte, Homosexuel- le, Angehörige von Minderheiten, politisch oder re- ligiös Andersdenkende – sie alle wurden Opfer einer entarteten Ideologie und eines damit verbundenen totalitären Machtanspruchs. Dennoch haben auch viele Österreicher den Anschluss begrüßt, haben das nationalsozialistische Regime gestützt, haben es auf vielen Ebenen der Hierarchie mitgetragen. Viele Ös- terreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reichs beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle. Über eine moralische Mit- verantwortung für Taten unserer Bürger können wir uns auch heute nicht hinwegsetzen. (...) Wir beken- nen uns zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen – bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten. (www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XVIII/NRSITZ/NRSITZ_00035/imf- name_142026.pdf; Stenogr. Protokoll, S. 3282f.; 5.8.2011) Internationaler Druck trug dazu bei, dass im Jahr 2000 ein mit 436 Millionen Euro dotierter „Versöhnungs- fonds“ für noch lebende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingerichtet wurde. Im Jahr 2001 ver- pflichtete sich die österreichische Bundesregierung, mit der Schaffung des „Entschädigungsfonds“ 210 Millio- nen US-Dollar für die Rückgabe von enteignetem jüdi- schen Vermögen und eine bessere soziale Versorgung der Holocaust-Opfer aufzubringen . Erste freie Wahlen und Allparteienkoalition Im November 1945 fanden die ersten Nationalratswah- len seit 1930 statt. Da die Mehrzahl der Kriegsgefange- nen zu dieser Zeit noch nicht heimgekehrt war und die ehemaligen Nationalsozialisten nicht wählen durften, waren von den fast 3,5 Millionen Wahlberechtigten 64 Prozent Frauen. Die ÖVP erreichte mit 85 Sitzen die ab- solute Mehrheit im Nationalrat, die SPÖ erhielt 76 Man- date und die KPÖ nur 4 von 165 Mandaten. Um dem Druck der Besatzungsmächte besser stand- halten zu können, wurde wieder eine Konzentrations- regierung gebildet. Entsprechend dem Wahlergebnis wurde ÖVP-Obmann Leopold Figl Bundeskanzler und Adolf Schärf, der Vorsitzende der SPÖ, Vizekanzler. Für die schwer geschlagene KPÖ übernahm Karl Altmann das Ministerium für Elektrifizierung und Energiewirt- schaft. Noch 1945 wurde Karl Renner von der Bundes- versammlung (Nationalrat und Bundesrat) einstimmig zum Bundespräsidenten gewählt. Auf eine Volkswahl verzichtete man aus Kostengründen. Auch diese Regierung war in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeengt. Noch fast ein ganzes Jahr lang konnte aufgrund des Ersten Kontrollabkommens das nunmehr frei gewählte Parlament kein Gesetz ohne einstimmige Genehmigung durch den Alliierten Kontrollrat rechts- kräftig beschließen. Es war ein großer Fortschritt, als das Zweite Kontrollabkommen vom Juni 1946 diesen strengen Kontrollmechanismus nur noch für Verfas- sungsgesetze vorsah. Für alle anderen Gesetze genügte von nun an die einfache Mehrheit im Kontrollrat. Damit wurde die Autorität der österreichischen Bundesregie- rung weitgehend anerkannt. Der harte Griff der Besat- zung lockerte sich immer mehr: Die Kontrollen an den Zonengrenzen wurden schrittweise abgeschafft, die Be- satzungskosten, für die Österreich aufzukommen hatte, ermäßigt und schließlich gestrichen. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Fasse die wesentlichen Aussagen der Moskauer Dekla- ration zusammen. 2. Erkläre mögliche Gründe für die Bildung der Konzentra- tionsregierungen im Jahr 1945 und überlege die Vor- und Nachteile einer solchen Regierungsform. 3. Stelle zusammenfassend die Maßnahmen der Entna- zifizierung dar und recherchiere dazu auch die weitere Entwicklung des Verbotsgesetzes (bis zur Novelle 1992). Welche politischen und gesellschaftlichen Probleme waren (sind) damit verbunden? W Besatzungsalltag 1946: Amerikanische Kontrolle an der Brücke zwi- schen Linz und dem von der Sowjetarmee kontrollierten Urfahr 1946. 103 4 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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