Zeitbilder 7, Schulbuch

1. „Rest“-Trauma und Kampf ums Staatsgebiet Ein Großreich zerfällt Im November 1916 starb Kaiser Franz Joseph nach 68-jähriger Herrschaft. Nach seinem Tod waren viele Soldaten der slawischen Nationalitäten, aber auch viele Ungarn nicht mehr bereit, für die Erhaltung der Monar- chie weiterzukämpfen. Der Nachfolger Franz Josephs, Kaiser Karl I., gab im Ok- tober 1918 ein Manifest (= Absichtserklärung) heraus: Die Doppelmonarchie sollte in einen Bundesstaat umgewan- delt werden. Zu spät – die einzelnen Nationen erklärten ihre Unabhängigkeit: Im Oktober 1918 wurde die Tsche- choslowakische Republik ausgerufen, im November die Ungarische Republik und im Dezember 1918 das König- reich der Serben, Kroaten und Slowenen (der so genannte SHS-Staat, ab 1929 „Königreich Jugoslawien“). Die Republik Deutschösterreich wird ausgerufen Wien, 21. Oktober 1918: Die bei den letzten Wahlen 1911 gewählten deutschsprachigen Reichsratsabgeord- neten erklärten sich zur „Provisorischen Nationalver- sammlung von Deutschösterreich“. Der Sozialdemokrat Karl Renner wurde mit der Ausarbeitung einer provi- sorischen Verfassung betraut. Das dringendste Problem bestand jedoch darin, sicherzustellen, dass alle deutsch- sprachigen Gebiete der Monarchie im nun neu entste- henden Staat (Deutsch-)Österreich verbleiben würden. Und so lautete der erste Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung: Q Das deutsche Volk in Österreich ist entschlos- sen, seine künftige staatliche Ordnung selbst zu bestimmen, einen selbstständigen Staat Deutsch- Österreich zu bilden und seine Beziehungen zu den anderen Nationen durch freie Vereinbarungen mit ihnen zu regeln. Der deutschösterreichische Staat beansprucht die Gebietsgewalt über das ganze deut- sche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Su- detenländern (...). (Zit. nach: Jochum, Die Erste Republik in Dokumenten und Bildern, 1983, S. 8) Benenne die wichtigsten Ziele der provisorischen Nationalversammlung. Am 30. Oktober 1918 trat die kaiserliche Regierung zurück. Gleichzeitig wurde eine provisorische Verfas- sung angenommen und damit der selbstständige Staat Deutschösterreich gegründet. Renner wurde Staats- kanzler einer Konzentrationsregierung (Staatsrat). Zwar wurde am 3. November 1918 der Krieg beendet, die neuen Grenzen wurden dem jungen Staat aber erst ein knappes Jahr später im Friedensvertrag von Saint- Germain vorgegeben. Am 11. November 1918 dankte Kaiser Karl I. zwar nicht formell ab, er verzichtete aber auf seinen Anteil an den Regierungsgeschäften. Schon am nächsten Tag, dem 12. November 1918, wurde die Republik ausgerufen: Die Nationalversammlung beschloss nämlich: Q Art. 1. Deutschösterreich ist eine demokrati- sche Republik. Alle öffentlichen Gewalten wer- den vom Volke eingesetzt. Art. 2. Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. (Zit. nach: Schausberger, Der Griff nach Österreich, 1978, S. 53) „Die Republik ist nicht lebensfähig!“ Von der Großmacht mit mehr als 50 Millionen Einwoh- ner/innen war 1918 nur eine kleine Republik mit etwa 6,5 Millionen übrig geblieben. Gleich nach der Grün- dung des neuen Staates sprach man vom „Staat, den keiner wollte“ und von „Rest-Trauma“ und „Rumpf- Österreich“. Dies drückte die Zweifel an der wirt- schaftlichen und staatlichen Lebensfähigkeit des ge- schrumpften Staates mit seinen unsicheren Grenzen aus. Die angebliche „Lebensunfähigkeit“ des neuen Kleinstaates wurde hauptsächlich von österreichischen Politikern behauptet. Sie versuchten mit diesem Argu- ment bei den Friedensverhandlungen in St. Germain bessere Bedingungen und den Anschluss an Deutsch- land zu erreichen. Viele Österreicher/innen bezweifel- ten die Lebensfähigkeit des neuen Kleinstaates, zumal sie persönlich schwer unter Hunger und Erkrankungen, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot litten. Tatsächlich traten nach dem Ersten Weltkrieg durch die Umstrukturierung vom Großreich in einen Kleinstaat wirtschaftliche Schwierigkeiten auf: Teilweise gab es Probleme bei der Energieversorgung, einige landwirt- schaftliche Überschussgebiete der Monarchie lagen jetzt außerhalb des Staates. Dazu gingen Absatzmärk- te verloren und neue Exportmärkte mussten erschlos- sen werden. Auch der aufgeblähte Verwaltungsapparat verursachte hohe Kosten. Aus heutiger Sicht werden die wirtschaftlichen Mög- lichkeiten der Ersten Republik aber viel günstiger be- W Gebietsansprüche Deutschösterreichs. Erkläre mit Hilfe der Karte den Kampf ums Staatsgebiet. 42 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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