Zeitbilder 7, Schulbuch
36 Kompetenzmaterial M1 Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sow- jetunion (1927 auf dem XV. Parteitag beschlossen) war die Vernichtung der Kulaken (=wohlhabende Bauern) verbunden: Mehr als 5 Millionen solcher „wohlhabender“ Bau- ern wurden „ausgemerzt“. Man nahm ihr gesamtes Hab und Gut und verschickte sie in Gruppen mit der Bahn unter Bewachung nach Nordsibirien oder in den Fernen Osten. Die Familien wurden zerrissen, die Männer zu Waldarbeiten, zum Bau von Eisenbah- nen, zum Beispiel der Baikal-Amur-Bahn, die Frauen mit Kindern zur Fischverarbeitung und anderen Ar- beiten eingesetzt. Sie lebten in Zelten, in Schuppen oder Erdhütten. Wer nicht fliehen konnte, war nach spätestens drei Jahren dem Tod geweiht (…) Jeden, der sich wehrte oder auch nur Zweifel äußerte, er- klärte man kurzerhand für einen Kulakenfreund, was entsprechende Folgen hatte. Bewaffnete Obrigkeit berief Bauernversammlungen unter Bewachung ein, überredete, drohte und zählte die Stimmen, wobei die Pistole als Wegweiser diente. Es wurde eine neue, vereinfachte Abstimmungsart erfunden – man fragte nur: „Wer ist dagegen?“ manchmal wurde hinzuge- fügt: „Gegen die Parteilinie und die Arbeiter- und Bauernregierung?“ Meldete sich niemand, weil er nicht noch in der gleichen Nacht nach Sibirien ver- schickt werden wollte, so galt der Antrag auf Errich- tung einer Kolchose, einer Kollektivwirtschaft, als einstimmig angenommen (…), was in frohlockenden Zeitungsartikeln gemeldet wurde. (Wolgin, Hier sprechen die Russen, 1965, S. 17 f.) M3 Der damals 13jährige Deutsche Wolfgang Leonhard wanderte mit seiner Mutter 1935 in die Sowjetunion aus. Obwohl sie Kommunistin war, wurde sie 1937 ein Opfer der stalinistischen „Säuberungen“ und verbrachte 12 Jahre in sowjetischen Lagern: Ich war längst nicht mehr der einzige im Heim, des- sen Mutter verhaftet worden war. Inzwischen hatten auch andere Zöglinge durch Briefe oder Karten von der Verhaftung ihrer Eltern erfahren (…) Jeder von uns wusste längst, dass Mutter oder Vater unschul- dig verhaftet waren. Wir waren aber schon so weit sowjetisch erzogen, dass wir bei unserer Beurteilung nicht von Einzelschicksalen ausgingen – selbst wenn es unsere Eltern betraf, die, wie wir wussten, un- schuldig waren. Bei keinem von uns – es waren etwa zehn Jugendliche, deren Eltern verhaftet worden wa- ren – führte dieser persönliche schwere Schicksals- schlag sofort zur Opposition gegen das System (…) Es ist für einen Menschen im Westen schwer, sich vorzustellen, wie hilflos wir in unseren Diskussio- nen waren. Wir waren ja nur auf die Prozessberichte angewiesen. Wir hörten nicht eine einzige Gegen- stimme, nicht einmal eine kritische Bemerkung. Wir hatten keine Zeitungen (…), keine Bücher (mit Aus- nahme derjenigen, die der „Linie“ entsprachen und zugelassen waren), keine Möglichkeit, ausländische Rundfunkkommentare über dieses Thema zu hören. Wir wussten nicht, dass sich im Ausland alle führen- den Zeitungen mit den Prozessen und Massenverhaf- tungen beschäftigten, dass unzählige Bücher darü- ber geschrieben und die verschiedensten Theorien über die Prozesse entwickelt wurden. Wir waren in unseren Gedanken und Diskussionen völlig auf uns gestellt. Außerdem sprachen wir selbst in unserem kleinen Kreis nicht alles offen aus (…) Immer wieder versuchten wir, die Säuberung zu rechtfertigen, um uns unser Ideal, unseren Glauben an die Sowjetuni- on, als das erste Land des Sozialismus, zu erhalten. Vielleicht, so sagten wir uns, ist es aus bestimmten, uns nicht bekannten Gründen unbedingt notwendig, diese Prozesse und Massenverhaftungen durchzu- führen. Vielleicht sind die Angeklagten zwar „sub- jektiv“ keine Verräter und Spione, hemmen jedoch „objektiv“ die Entwicklung des Sozialismus. (Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, 16. Auflage, 1968, S. 36 f.) M4 Fast 2000 Österreicherinnen und Österreicher schlossen sich während des Spanischen Bürgerkrieges im Kampf gegen den Faschismus den „Internationalen Brigaden“ an. Der damalige Medizinstudent Josef Schneeweiß berichtet: Am 3. September 1936 brach ich von Wien auf, um der bedrängten spanischen Republik zu Hilfe zu ei- len. Meinen Eltern hatte ich gesagt, ich mache eine Tour per Autostopp durch Österreich, in die Schweiz, das Rhonetal abwärts und über Oberitalien nach Ös- terreich zurück. Nur mein Bruder kannte das Ziel meiner Reise. Einige Freunde aus meiner früheren 10. Diktatorische Systeme in Europa M2 Kollektivierung der Landwirtschaft. Plakat „Genosse, tritt in unsere Kolchose ein!“ aus den 1930er-Jahren, Entwurf: Vera Sergejewna Korabljowa (1887–1950) / Fotografie von Yuri Maslyaev. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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