Zeitbilder 7, Schulbuch
9. Lateinamerika Lateinamerika – „Hinterhof“ der USA Seit dem 19. Jh. übten die USA auf die Staaten in La- teinamerika großen Einfluss aus. Großkonzerne aus den USA kontrollierten weite Bereiche der Wirtschaft. In den Ländern selbst befanden sich mit amerikanischer Hilfe vielfach Großgrundbesitzer, Großindustrielle und Offi- ziere an der Macht. Sie vertraten die Interessen einer kleinen reichen Oberschicht und regierten diktatorisch. Immer wieder kam es zu Versuchen, diese Zustände zu ändern. Doch die USA unterstützten bei Umsturzversu- chen in der Regel jene Kräfte, die ihren Interessen nütz- ten. Bis auf den Fall Kuba waren sie damit lange Zeit erfolgreich (z. B. in Guatemala 1954 oder in Chile 1973). In Kuba wurde die von den USA unterstützte Diktatur 1959 gestürzt und der Revolutionsführer Fidel Castro kam an die Macht (vgl. S. 121). Militärregierungen – und ihre Ablöse In den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jh. kehrten in Lateinamerika zahlreiche Staaten nach dem Scheitern der Militärregime wieder zur Demokratie zurück. Diese Entwicklung vollzog sich allerdings auf unterschiedli- che Weise. In Argentinien z. B. musste die Militärre- gierung nach der Niederlage gegen Großbritannien im Krieg um die Malvinen- bzw. Falkland Inseln (1982) die Macht abgeben. In Uruguay, El Salvador und Guatema- la geschah dies nach massivem internationalem Druck. In Brasilien, Ecuador, Peru und schließlich auch in Chile zogen sich die militärischen Machthaber mehr oder we- niger freiwillig zurück. Die Militärregierungen hatten der Mehrheit der Bevölkerung keine Beteiligung am politischen Leben zugestanden. Vielmehr verübten sie v.a. in Chile und Argentinien massive Menschenrechts- verletzungen. Kritische Personen und Oppositionelle wurden in großer Zahl willkürlich verhaftet, gefoltert und vielfach auch ermordet. Die Angehörigen wurden zumeist im Unklaren gelassen. Außerdem verfolgten die Militärdiktaturen wirtschaftlich nur eine Politik des Wachstums ohne Verteilungsgerechtigkeit. Die Forde- rung nach mehr Mitbestimmung im politischen Leben und nach gerechterer Verteilung des Wohlstandes wur- de immer lauter. Der Lateinamerikaexperte Hans Wer- ner Tobler schreibt dazu: L Etwa 40% der Gesamtbevölkerung Lateinameri- kas wurden in den 1990er-Jahren [der Kategorie der Armen] zugerechnet. Ungefähr 6 Mio. Kleinkin- der bis zu fünf Jahren galten als unterernährt; etwa 18 Mio. Kinder im schulpflichtigen Alter besuchten keine Schule; (…) mindestens 95 Mio. Menschen hat- ten keinen angemessenen Zugang zu Trinkwasser; ca. 100 Mio. verfügten nicht über die erforderlichen Gesundheitsdienste. Kinderarbeit war die Regel, Kinderprostitution häufig anzutreffen. (Tobler, Zwischen Beharrung und Aufbruch. Lateinamerika. In: Konrad, /Stromberger (Hg.): Die Welt im 20. Jh. nach 1945, 2010, S. 330). Das Fallbeispiel Argentinien Die Militärdiktatur und die Aufarbeitung ihres Erbes Während der Militärdiktatur (1976–1983) wurden von- seiten der Regierung zahlreiche Verbrechen an der Bevölkerung verübt. Deren politische und vor allem rechtliche Ahndung wird erst in jüngster Zeit konse- quenter betrieben. U. a. erfuhr man, dass Oppositionelle aus Flugzeugen einfach ins Meer geworfen wurden. Im Juli 2003 wurden von einem Richter Haftbefehle gegen 45 Mitglieder der früheren Militärjunta erlassen. Unter ihnen befindet sich auch Jorge Rafael Videla, der von 1976 bis 1978 Staatspräsident und Oberkommandieren- der des Heeres war. Zugleich wurde ein Erlass aufge- hoben, der die Auslieferung ehemaliger Militärs unter- sagte, die während der Diktatur Menschenrechtsverlet- zungen an Ausländerinnen und Ausländern, vor allem an spanischen Staatsangehörigen, begangen hatten. Trotz innenpolitischer Widerstände hob das Parlament die Amnestiegesetze aus den Jahren 1986 und 1987 auf, die unter den Titeln „Schlusspunktgesetz“ und „Gesetz über Befehlsnotstand“ eine gerichtliche Verfolgung der Verbrechen verhinderten. Schließlich ratifizierte das Parlament Ende 2003 auch eine Konvention der UNO, wonach Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Der Oberste Gerichtshof entschied 2005, dass neue Verfahren gegen ehemalige Mitglieder der Militärjunta zu eröffnen sind. Solche werden auch ge- genwärtig noch geführt. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Argentinien ahndet die Verbrechen während der Militär- diktatur selbst. Diskutiert die Schwierigkeiten, auf die die Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer wieder stoßen. Was besagen in einem solchen Zu- sammenhang Gesetzesbezeichnungen wie „Schlusspunkt- gesetz“ oder „Gesetz über Befehlsnotstand“? Vergleiche dazu die Möglichkeiten des Internationalen Strafgerichts- hofes (vgl. S. 112 f.). W Bis heute demonstrieren Mütter auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires für die vollständige Aufklärung der Militärdiktatur und ihre recht- liche Ahndung. Fotografie von Andrea Strutz, September 2012. 130 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=