Zeitbilder 7, Schulbuch

5. Von der Sowjetunion zur GUS Stalins letzte Jahre Die Sowjetunion zählte zu den militärischen Siegern des Zweiten Weltkrieges. Doch die Verluste waren groß. Nach Schätzungen hatten mindestens 25 Millio- nen Menschen ihr Leben verloren. Weite Teile des Lan- des waren verwüstet. Viele sahen in Stalin den „Retter der Sowjetunion“. Der Aufbau neuer Industrien, neuer Bildungs- und Forschungsstätten sowie der Aufstieg der Sowjetunion zur neuen militärischen Weltmacht wur- den ihm zugeschrieben. Doch Stalins Herrschaft (seit 1924) bedeutete vor allem auch Zwang, (Staats-)Terror und Tod. Eine perfekt ausgebaute Geheimpolizei ver- breitete Misstrauen und Angst. 1953 drohte neuerlich eine Verhaftungswelle, ehe Stalin im März starb. Q Auszug aus Stalins Schreckensherrschaft: 1930/31: Deportation von knapp 2 Millionen Bau- ern mit Hunderttausenden Toten. 1932/33: Ca. 6 Millionen Hungertote als Folge der Zwangskollektivierung. 1936–38: Der „Große Terror“ führte zu ca. 1,4 Milli- onen Verurteilungen und ca. 700 000 Hinrichtungen (darunter viele militärische und wirtschaftliche Füh- rungskräfte sowie Intellektuelle und Parteifunktio- näre). 1934–41: Insgesamt 7 Millionen in Lagern Inhaftierte. 1941–43: Ca. 600 000 Tote in den Lagern. 1953: 2,75 Millionen in Lagern Inhaftierte. (Zusammengestellt nach: Courtois u. a., Das Schwarzbuch des Kom- munismus, 1998, S. 165–275) Chruschtschow will Reformen in Partei, Staat und Wirtschaft Nikita Chruschtschow wurde neuer Generalsekretär der kommunistischen Partei. Auf dem 20. Parteitag (1956) verurteilte er den Kult um seinen Vorgänger und enthüll- te einen Teil der von Stalin und seinen Helfern began- genen Verbrechen. Knapp die Hälfte der in der Stalin- zeit verhafteten Opfer durfte aus den (Arbeits-)Lagern wieder in das zivile Leben zurückkehren. In der Sowjet- union bestimmte allein die Kommunistische Partei die Politik und auch alle Bereiche von Wirtschaft und Ge- sellschaft. Sie war straff organisiert. Kennzeichnend für die sowjetische Wirtschaft waren zentrale Planung und Verwaltung. Im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stand bisher der Aufbau der Schwerindustrie. Hinsichtlich des Lebensstandards der Bevölkerung wies die Sowjetunion jedoch einen großen Rückstand gegenüber dem „Wes- ten“ auf. Daher sollte die Versorgung mit Konsumgütern, Lebensmitteln und Wohnungen verbessert werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter erhielten das Recht, ihre Ar- beitsplätze zu wechseln. In der Landwirtschaft wurden neue Anbauflächen erschlossen und die Ausrüstung mit Maschinen und Traktoren verbessert. Dennoch musste die Sowjetunion weiterhin Jahr für Jahr Getreide im- portieren. Chruschtschows Reformen stießen bei vielen Parteifunktionären sowie bei der Armeeführung auf Wi- derstand. Diese lehnte vor allem eine Senkung der Mi- litärausgaben zugunsten des privaten Konsums ab. Zu- sätzlich schwächten noch außenpolitische Misserfolge wie der Bruch mit China (1960; vgl. S. 132) oder die „Ku- bakrise“ (vgl. S. 121) Chruschtschows Position. Er wurde 1964 zum Rücktritt gezwungen. Breschnew festigt die Staatsmacht erneut – und scheitert Unter dem neuen Parteichef Leonid Breschnew (1964– 1982) wurden die begonnenen Reformen gestoppt und der Druck der Staatsmacht wieder verstärkt. Dies beka- men besonders die Kritiker des sowjetischen Systems, die so genannten Dissidenten, zu spüren. Sie verlangten eine Demokratisierung der Gesellschaft, forderten Mei- nungsfreiheit und protestierten gegen Rechtsverstö- ße durch die Behörden. Die Staatsmacht reagierte mit Berufsverboten, Gefängnis, Zwangsarbeit, Einweisung in psychiatrische Kliniken, Verbannung und Ausbürge- rung. Ende der 1970er-Jahre geriet die sowjetische Wirtschaft in eine tiefe Krise. Spätestens Mitte der 1980er-Jahre erkannten immer mehr Parteifunktionäre, dass die Kri- se in Gesellschaft und Wirtschaft sich nur noch durch grundlegende Veränderungen bewältigen ließe. Perestroika und Glasnost Im Jahr 1985 wurde der Agrarfachmann und Jurist Michail Gorbatschow neuer Generalsekretär der Kom- munistischen Partei. Im Gegensatz zu seinen Vorgän- gern trat er für grundlegende Veränderungen ein – für „Perestroika“ und „Glasnost“: Erstens sollte ein um- fassender Umbau der Wirtschaft (Perestroika) erfolgen. Und zweitens sollten die herrschenden Zustände offen- gelegt und frei kritisiert werden können (Glasnost). Gorbatschow leitete diese Reformen „von oben“ ein. Doch schon lange hatten auch viele Intellektuelle, Kunstschaffende und engagierte Menschen „von un- ten“ auf die Veränderung der herrschenden Zustän- de gedrängt. 1986 durfte der Atomwissenschafter und Dissident Andrej Sacharow aus seiner Verbannung nach Moskau zurückkehren. Viele politische Gefan- gene wurden amnestiert, die Werke bisher verbotener Schriftsteller veröffentlicht. Im Zuge der neuen Offen- heit in den Medien geriet auch der Terror der Stalinzeit immer stärker unter Kritik. Q Auf Lastwagen und in Bussen ziehen die Bürger im sibirischen Irkutsk an einem kalten Wintertag des Jahres 1989 vor die (…) Stadt (…). Die antistali- nistische „Memorial“-Bewegung und die Gemeinde- verwaltung (…) luden zum symbolischen Begräbnis der kürzlich entdeckten menschlichen Überreste von Opfern eines (…) Lagers aus der Stalinzeit. Der örtli- che KGB hatte mitgeholfen, das Massengrab zu fin- 122 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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