Zeitbilder 5/6, Schulbuch

Der Zerfall der karolingischen Herrschaft Um 800 war unter Kaiser Karl dem Großen im Franken- reich das römische Kaisertum in der westlichen Welt neu entstanden. Doch zu Anfang des 10. Jh. schien alles durcheinander zu geraten. Die Sarazenen durchzogen plündernd Süditalien, die Ungarn fielen in regelmä- ßigen Raubzügen in Mitteleuropa ein. Die Küsten des westfränkischen Reiches waren schon lange eine Beute der Normannen, ehe sie sich mit Zustimmung des fran- zösischen Königs dort niederließen (Normandie). Die karolingische Herrschaftsordnung zerfiel. Diesen Ver- fall fasste ein Zeitgenosse eindrucksvoll zusammen: Q Allenthalben fehlen die Führer, die Zucht ver- fällt. Sie, die zur Verteidung des Vaterlandes und Volkes bestellt sind, geben den Anlass zum Streit. Die Barbaren, die einst in ihrer Heimat heimgesucht und zum Tribut vom Christenvolk gezwungen wur- den, überfallen jetzt die katholische Gemeinschaft, weil kein König sie leitet. Wehe dir, Land, dessen König ein Kind ist. (Salomonis Carmina, Bischof Salomon von Konstanz, gekürzt, 10. Jh.; nach: Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen, 1987, S. 356) Ein neues Machtzentrum entsteht Der letzte Nachkomme der Karolinger im ostfränki- schen Reich, Ludwig das Kind, starb im Jahr 911. Die wichtigsten Stämme des ostfränkischen Reiches (Bay- ern, Sachsen, Schwaben und Franken) einigten sich darauf, Konrad, den Herzog des Frankenstammes, zum König zu wählen (911–918). Damit war der Anfang für ein Reich geschaffen, das – abgesehen von Lothringen – im Wesentlichen die deutschsprachigen Stämme ver- einigte. In zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mussten er und seine Nachfolger die königliche Herr- schaft im Inneren des Reiches jeweils von neuem durch- setzen. Doch Heinrich I. vom Stamm der Sachsen (919– 936) und sein Sohn Otto I. (der Große, 936–973) mach- ten das Königtum in Deutschland zum angesehensten in Europa. Ihm gelang es schließlich, die eingebroche- nen Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld (955) bei Augsburg vernichtend zu schlagen. Herrschaft durch Krieg und Missionierung im Osten Nach diesem Sieg ging Otto I. daran, das Reich zu si- chern. Im Osten stabilisierte er die Grenzen durch die Neubegründung der bayrischen Ostmark –– und anderer Grenzmarken und indem er die Gründung eines ungarischen Rei- –– ches förderte. Eine solche vereinheitlichende Staatenbildung war bei den Slawen im Nordosten des Reiches noch nicht vor- handen. Sie bildeten daher eine Quelle der Unsicher- heit. Im Jahre der Lechfeldschlacht besiegte Otto der 3. Im 10. Jahrhundert entstand Europas „Staatenwelt“ Große auch die Slawen und unterwarf sie bis zur Oder. Der sächsische Mönch Widukind berichtet darüber: Q Die Barbaren (Slawen) aber machten einen Einfall in sächsisches Land. Voll Begier, diesen Frevel zu rächen, drang der König, nachdem er schon den Sieg über die Ungarn gewonnen hatte, verheerend in das Gebiet der Barbaren ein. (…) Es wurde das Lager der Feinde genommen, das Morden währte bis tief in die Nacht. (Widukind, Sachsengeschichte 111) Um die nicht christlichen Slawen auf Dauer in den deut- schen Herrschaftsbereich einzubinden, ließ Otto sie mis- sionieren. Als wichtigen Ausgangspunkt der Ostmission gründete der Kaiser das Erzbistum Magdeburg. Welche Gründe lassen sich neben dem Bekehrungswillen noch hinter dem Missionseifer vermuten? Vergleiche die- se Missionierungspolitik mit jener von Karl dem Großen. Die Karten sind verteilt – Europas Staatenwelt um 1000 Durch die Politik Ottos des Großen und seiner Nach- folger verlagerten sich die Schwerpunkte Europas im Verlaufe des 10. Jh. vom Westen in die Mitte und nach dem Osten. Gegen den Druck der Deutschen und aus Angst vor dem „Deutschen Gott“ begann sich das junge slawische und ungarische Christentum dem byzantinischen Machtbe- reich zuzuwenden. Kaiser Otto III. (983–1002), der En- kel Ottos des Großen, erkannte die Gefahr für die rö- mische Kirche und für seine Herrschaft. Er unterstützte den Aufbau von nationalen Kirchen: in Böhmen durch die Förderung des von Otto II. 973 eingerichteten Bis- tums in Prag, in Polen durch die Errichtung des Erzbis- tums Gnesen im Jahre 1000. Ihnen folgte im Jahre 1001 die Errichtung von Gran als Metropole der ungarischen Kirche. Damit gelang es ihm, diese Länder auf Dauer in den römisch-lateinischen und damit mitteleuropäischen Kulturkreis einzubinden. Die romanischen und germanischen Stämme und Völ- ker trennten sich im zerfallenden karolingischen Reich allmählich voneinander. Zu ihnen traten die nord- und osteuropäischen Völker, die Normannen, die Slawen und die Ungarn. Daraus formierten sich im 10. Jh. im Großen und Ganzen die europäischen Nationen. Sie bil- den die Grundlage für die europäische Staatenwelt bis in die Gegenwart. Doch viele dieser Länder hatten keine wirklichen Gren- zen, sondern Grenzzonen. Länder waren Personenver- bände, d. h. die Herrschaft reichte jeweils so weit, wie die persönliche Macht eines Herrn reichte. Was weißt du über die aktuelle Politik der EU gegenüber den osteuropäischen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland? 68 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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