Zeitbilder 5/6, Schulbuch

15. Industrialisierung und soziale Probleme Die arbeitende Bevölkerung Die habsburgischen Länder bildeten in Mittel- und Süd- osteuropa einen großen Wirtschaftsraum ohne trennen- de Grenzen, Handelsschranken und Zollmauern. Die Bevölkerungszahl war von 23 Millionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf 47 Millionen um 1900 angestiegen. Mit der Industrialisierung veränderte sich auch die gesellschaftliche Struktur. Die Landflucht verstärkte sich, die Städte wuchsen enorm (Wien hatte 1870 noch 650 000 Einwohner, 1900 bereits 1,7 Millionen). Den- noch blieb die Habsburgermonarchie ein Agrarstaat: In der stärker industrialisierten österreichischen Reichs- hälfte lebten vor dem Ersten Weltkrieg immerhin noch mehr als 50 Prozent der Bevölkerung von der Landwirt- schaft. In der Industrie waren im Jahre 1910 nur knapp ein Viertel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tätig – bedeutend weniger als in West- und Nordeuropa. Dafür gab es mit mehr als 600 000 Dienstboten einen europäischen Spitzenwert. Ausbau des Eisenbahnnetzes Im Zuge der Industrialisierung wurden auch die Ver- kehrswege ausgebaut. Das Eisenbahnnetz der Mon- archie wurde ständig erweitert, wobei auch technisch schwierige Strecken, wie über den Brenner, die Kara- wanken, den Arlberg und die Tauern, fertig gestellt wer- den konnten. Die Finanzkrise vieler Privatbahnen, aber auch ihre große wirtschaftspolitische und strategische Bedeutung, führte bald zur Verstaatlichung (ab 1877). Entwicklung von Großindustrien Die alpenländische Eisenindustrie hatte besonders gute Voraussetzungen. Die großen Kohlenlager in Böhmen, Mähren und Schlesien lieferten den für die Verhüt- tung nötigen Brennstoff. Später verwendete man auch die steirische Braunkohle. Die Zusammenfassung der kärntnerischen und steirischen Hüttenbetriebe zur Al- pinen-Montan-Gesellschaft (1881) mit dem Hauptwerk in Donawitz schuf einen großen Industriekonzern. Die Böhlerwerke in Kapfenberg wurden bald für ihren her- vorragenden Stahl berühmt. Auf diesen Grundlagen konnte sich die metallverarbei­ tende Industrie kräftig entwickeln. In Wien und Wiener Neustadt entstanden große Lokomotivfabriken. Franz Wertheim aus Krems stellte feuerfeste Panzerschränke her, die in alle Welt exportiert wurden. Die „Österrei- chische Waffenfabriksgesellschaft“ des Joseph Werndl in Steyr war die Waffenschmiede der k. u. k. Armee. Johann Puch, ein Grazer Schlosser, gründete die Gra- zer Fahrradwerke (1899), die bald auch Motorräder her- stellten und zu einem Großbetrieb aufstiegen. Zu den „boomenden“ Branchen dieser „Gründerzeit“ gehörten auch die Textilindustrie in Nieder-, Oberösterreich, Vor- arlberg und Böhmen, die Glaserzeugung in den Sude- tenländern, die Zuckerindustrie in Niederösterreich, die industrielle Erzeugung von Lederwaren in Wien und alle Zweige der Bauwirtschaft. Parallel dazu entwickel- te sich auch das Bank- und Kreditwesen kräftig. In Wien entstanden einige Großbanken, wie z. B. die Creditan- stalt für Handel und Gewerbe oder die Länderbank. Die Wiener Börse erlebte einen ungeheuren Aufschwung. Hemmungslose Spekulationen führten schließlich im Jahre 1873, gerade zu der Zeit, als man den erworbenen Reichtum in einer Weltausstellung in Wien dokumentie- ren wollte, zu einem großen Börsenkrach. Er erschütter- te ganz Europa schwer. Die Soziale Frage in Österreich Einige Bürger wurden durch den wirtschaftlichen Auf- stieg unvorstellbar reich. Viele ließen sich in den Städ- ten großartige Paläste bauen (z. B. an der Wiener Ring- straße), erwarben große Landgüter und wetteiferten mit dem Adel. Die Masse der Bevölkerung hatte jedoch in der „gu- ten alten Zeit“ vor dem Ersten Weltkrieg trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs keine Hoffnung auf Bes- serstellung. Die Selbstmordrate lag weit über dem euro- päischen Durchschnitt. Viele kehrten ihrer Heimat den Rücken. In den Jahren von 1898 bis 1913 wanderten nicht weniger als 2,9 Millionen Menschen allein in die Vereinigten Staaten aus. Vor allem Kleingewerbetreibende verarmten. Sie konn- ten – zumindest im städtischen Bereich – der übermäch- tigen Konkurrenz der billigen Massenproduktion nicht standhalten. L Noch elender war sicherlich die Lage der Arbei- ter, die in kleinen, überbelegten, häufig genug gesundheitsschädlichen Wohnungen lebten – eine Fa- milie mit vielen Kindern und vielleicht noch einigen Bettgehern in einer Zimmer-Küche-Wohnung zum Beispiel. Auch die Ernährung dieser Menschen war entsprechend schlecht, zusammen mit den ungesun- den Wohnverhältnissen bewirkte das eine Reihe von typischen Krankheiten wie Rachitis und Tuberkulose, die besonders in diesem Milieu ihre Opfer forderten. (Vocelka, Karikaturen und Karikaturen, 1986, S. 14) W Die „öffentliche Feuerprobe zu Konstantinopel 1857“ stellte die Qua- lität der Panzerschränke Wertheims eindrucksvoll unter Beweis. Das Öl- gemälde zeigt Franz Wertheim in Festkleidung mit Zylinder neben dem Sultan stehend. 274 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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