Zeitbilder 5/6, Schulbuch

Propaganda, den Neid auf diese erfolgreichen Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Künstlerin- nen und Künstler zu schüren. Lueger nutzte diese anti- semitischen Tendenzen in Teilen der Bevölkerung und machte Stimmung gegen die jüdische Bevölkerung. Seine Angriffe richteten sich neben Juden, auch gegen die Kapitalisten und gegen die Sozialisten. Dieser Anti- semitismus, sein Antiliberalismus und Antisozialismus machten Lueger sehr populär: L Der neue Bürgermeister bewährte sich glänzend, er sicherte, nachdem er unzulängliche Einrich- tungen suspekter Privatfirmen in den Besitz der Ge- meinde übernahm, die Versorgung der Stadt mit Gas, elektrischem Strom und Trinkwasser, verbesserte den öffentlichen Verkehr, in erster Linie den Tramwaybe- trieb, ließ Schulen, Spitäler, Altersheime, darunter das „Versorgungshaus Lainz“, bauen, Grünflächen und Grüngürtel in großem Umfang pflanzen, die Müllabfuhr und die Straßenreinigung neu organisie- ren und die nächtliche Straßenbeleuchtung erheblich verstärken. Bescheiden war Karl Lueger allerdings nicht, er führte in Wien den Brauch ein, die neuen Projekte mit dem in Marmor gemeißelten Namen des Bürgermeisters zu zieren, er errichtete auf dem Wie- ner Zentralfriedhof eine „kleine Kapuzinergruft“, die Bürgermeistergruft in der Dr.-Karl-Lueger-Gedächt- niskirche. (Vajda, Felix Austria, 1980, S. 535 f.) Die Gemeinde als wirtschaftlicher Großbetrieb ist heute wieder umstritten. Welche Argumente sprechen dafür, welche dagegen? 1907 wurden die Christlichsozialen zur stärksten Frakti- on im Reichsrat. Ab nun wandelte sie sich immer mehr zu einer – konservativ eingestellten – Interessenvertre- tung der Wirtschaftstreibenden und Bauern. Nach Lue- gers Tod gaben viele Anhänger der Christlichsozialen in Wien bei den Reichsrat-Wahlen 1911 den Sozialde- mokraten ihre Stimme. Seither blieb Wien eine Hoch- burg der Sozialdemokratie. Gewerkschaften, Vereine, Genossenschaften Die fortschreitende soziale Differenzierung der Bevöl- kerung im Zuge der Industrialisierung ließ auch die For- derung nach einer (stärkeren) Vertretung der einzelnen Berufsgruppen oder „Klassen“ gegenüber dem Staat und der Gesamtgesellschaft immer stärker werden. Auch nach der Gewährung der Vereinsfreiheit (1867) blieben die Vereine weiterhin unter staatlicher Aufsicht. Dies galt besonders für die Arbeitervereine, denen häu- fig eine staatsgefährdende Agitation unterstellt wurde. Trotz der Unterdrückung durch Behörden gab es schon zu Beginn der Siebzigerjahre in Österreich über 100 Fachvereine (Gewerkschaften). Der Aufstieg der Ge- werkschaftsorganisationen war mit der Entwicklung der Sozialdemokratie zur Massenpartei verbunden. Auch ihre Ziele deckten sich weit gehend. 1893 konnte schließlich ein erster gesamtösterreichischer Gewerk- schaftstag abgehalten werden. Neben den sozialdemokratischen wurden auch christ- liche Arbeitervereine gegründet, wie der von Leopold Kunschak 1892 ins Leben gerufene christlichsoziale Arbeiterverein. Diese Vereinigungen konnten jedoch nur einen kleinen Teil der Arbeiterschaft erfassen. Ihre Mitglieder entstammten vor allem dem kleingewerbli- chen Bereich. Im Jahre 1908 waren in Österreich etwa 447 000 Arbeiter sozialdemokratisch und etwa 84 000 christlich organisiert. In den Industrieorten kam es zur Gründung von Konsumgenossenschaften. Diese sollten die Arbeiter aus dem Truck-System der Fabriken (Bezahlung der Arbeitnehmer in Waren anstelle des Barlohns) befreien. In den Konsum-Geschäften konnten sie auch günstiger einkaufen. Auch die Selbstständigen schlossen sich in zahlreichen freien Vereinigungen (d. h. ohne Zwangsmitglied- schaft), z.B. in Gewerbevereinen, zusammen. Ihre Auf- gaben sahen solche Vereine hauptsächlich in der Er- weiterung der fachlichen Bildung der Mitglieder, in der gegenseitigen Information, in der Interessenvertretung dem Gesetzgeber gegenüber. Als Hilfsorganisationen für das Kleingewerbe schuf man gewerbliche Hilfskas- sen und Kreditgenossenschaften („Volksbanken“). In der Landwirtschaft organisierten sich die Grundbe- sitzer in eigenen Vereinigungen (Bauernvereine, Bau- ernbünde). Diese nahmen vor allem in den Landtagen ihre Interessen wahr. Um die Kreditnot der Bauern zu mildern, wurden Kreditgenossenschaften (z. B. Raiffei- senkassen) errichtet. Zur gemeinsamen Vermarktung ihrer Produkte schufen die Bauern Wein-, Milch-, Mol- kerei- und Lagerhausgenossenschaften. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Erkläre die Unterschiede zwischen „Honoratiorenpartei“ und „Massenpartei“. 2. Beschreibe die drei politischen Parteien Österreichs am Ende des 19. Jahrhunderts nach folgenden Kriterien: Anhängerschaft, politische Inhalte und Ziele, Bedeutung, wichtige Politiker etc. W Bürgermeister Karl Lueger beim Praterkorso (Gemälde von Wilhelm Gause, 1904). Lueger war vor allem der politische Praktiker der Christ- lichsozialen Partei. 273 Österreich im Mittelalter und in der Neuzeit 7 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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