Zeitbilder 5/6, Schulbuch

Geistlichkeit, das Bauerntum und Teile der Arbeiter- schaft zu ihren treuen Anhängern zählen. Die geistigen Grundlagen für die christlichsoziale Be­ wegung inÖsterreich schuf Karl Freiherr vonVogelsang. Dessen Vorstellungen zur Lösung der Sozialen Frage im Sinne der christlichen Soziallehre fasst der österreichi- sche Historiker Hanns Leo Mikoletzky zusammen: L Wirtschaft und Gesellschaft müssen so gestaltet sein, dass der Mensch die ihm von Gott gestellte Aufgabe erfüllen kann. (…) Es ist Unrecht, dass die Kapitalisten nach Gutdünken über die Produktions- mittel verfügen und die Konsumenten durch hohe Preise, die Arbeiter aber durch niedere Löhne schä- digen. (…) Die parlamentarische Verfassung, die die Liberalen geschaffen haben, erlaubt den Kapitalis- ten, die Bevölkerung zu tyrannisieren, und erleich- tert zugleich den Demagogen, die Arbeiterschaft ir- rezuführen. Die Beziehung des Arbeiters zum Unternehmer ist entweder als Gesellschaftsverhältnis aufzufassen, dann steht dem Arbeiter Anspruch auf Gewinnbetei- ligung zu, oder es ist ein Lohnverhältnis, dann muss der Arbeiter Entschädigung für die Zeit seiner beruf- lichen Ausbildung erhalten und einen Betrag, den er sich zurücklegen kann, um im Alter vor Not geschützt zu sein. Da die Hauptgeschädigten des Zinsgeschäf- tes die Bauern sind, soll eine neue Grundentlastung, das heißt eine großzügige Entschuldung der Bauern- schaft, durchgeführt werden. (…) Das Parlament ist durch eine berufsgenossenschaftliche, ständische Vertretungskörperschaft zu ersetzen. (Mikoletzky, Österreich. Das entscheidende 19. Jahrhundert, 1972, S. 443 f.) Wogegen wendet sich Vogelsang vor allem? Welche Missstände zählt er auf? Welche Lösungsmöglichkeiten bietet er an? Vergleiche die Aussagen Vogelsangs mit den beiden an- deren Parteiprogrammen in diesem Kapitel. Auf dieser geistigen Basis wurde 1887 von Lueger, dem Prinzen Alois von Liechtenstein und dem Arbeiter Leo- pold Kunschak die Christlichsoziale Partei gegründet. Mit dieser Partei brach Lueger die liberale Gemeinde- ratsmehrheit in Wien. Er nutzte dabei die damals stark vorhandene Proteststimmung der unteren Mittelschicht. Gegenüber der jüdischen Bevölkerungsminderheit gab es viele Vorurteile, die Lueger zu seinen Gunsten nutz- te. Die Geschichte der Jüdinnen und Juden auf dem Ge- biet des heutigen Österreich ist geprägt von Phasen der Verfolgung und Toleranz sowie vom Kampf um Gleich- berechtigung (vgl. das Kapitel Juden im Mittelalter, S. 92 f. sowie das Toleranzpatent Joseph II., S. 260 f.). In der Monarchie und in der Ersten Republik nahmen trotz aller politischen Widrigkeiten Jüdinnen und Juden eine bedeutende Stellung ein und hatten großen Anteil am wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Viele österreichische Nobelpreisträger, bekannte Schriftstel- lerinnen und Schriftsteller, Musikerinnen und Musiker, Theaterleute sowie Ärztinnen und Ärzte stammten aus jüdischen Familien. Es war Teil der antisemitischen W Erster Mai 1890 in Wien. 1890 wurde der Erste Mai zum ersten Mal auf Grund internationaler Beschlüsse als „Weltfeiertag der Arbeit“ er- klärt. Illustration des Demonstrationszug der Arbeiterschaft über die Aspernbrücke in den Prater, vor allem die männlichen Teilnehmer sind sehr bürgerlich gekleidet dargestellt. lich in eine Massenbewegung. Für die seit 1890 durch- geführten „Mai-Spaziergänge“ (offizielle Maifeiern mit Umzügen waren verboten) und für große Wahlrechts- demonstrationen gelang es, viele tausende Menschen auf die Straße zu bringen. Nach der Wahlrechtsreform von 1907 stellten die Abgeordneten der SDAPÖ mit 87 von 516 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion im Reichsrat. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs verstand sich als internationale Partei. Im Zeitalter des Nationa- lismus war jedoch auch für sie die „Schicksalsfrage“ der Monarchie, das Nationalitätenproblem, wichtig. Die so- zialdemokratischen Denker Otto Bauer und Karl Renner setzten sich in mehreren Schriften für nationale Autono- mie und Minderheitenschutz ein. Die Existenz des Viel- völkerstaates stellten sie aber nie in Frage. Dennoch konnte die Einheit der Sozialdemokratie in der Donaumonarchie nicht erhalten werden. Es bilde- ten sich nationale sozialdemokratische Parteien und die Arbeiterbewegung fiel in den letzten Vorkriegsjahren in eine tiefe Krise. Die Christlichsoziale Partei Ebenfalls am Ende der achtziger Jahre des 19. Jh. ge- lang es christlichsozialen Gruppierungen, sich zu einer Massenpartei zusammenzuschließen. Die Ursprün- ge der Christlichsozialen sind in Wien zu suchen, wo sich ihr Führer, Karl Lueger, zunächst vor allem auf die Handwerker und Kleingewerbetreibenden stützte. Schon in den neunziger Jahren konnte die Christlichso- ziale Partei neben den Kleinbürgern auch die niedere 272 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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