Zeitbilder 5/6, Schulbuch

rend: Der junge Adolf Hitler hatte diese Ansichten in Wien kennen gelernt und – vor allem den Antisemitis- mus – zu einer Grundlage seiner Politik gemacht. Die Sozialdemokratische Partei Nach der gescheiterten Revolution von 1848 war es Ar- beitern verboten, sich zusammenzuschließen. Erst das liberale Vereins- und Versammlungsgesetz des Jahres 1867 ermöglichte die Gründung von Arbeiterbildungs­ vereinen. Diese beschäftigten sich bald mit gesell- schaftspolitischen Fragen. Politische und gewerkschaft- liche Tätigkeit war den Arbeitern aber weiterhin unter- sagt. Die sozialdemokratische Bewegung war in sich gespal- ten: Der gemäßigte Flügel wollte die Mitsprache im Staat über das allgemeine Wahlrecht erlangen. Die ra- dikalen Anhänger von Karl Marx waren international eingestellt und strebten die Macht im Staat für die Ar- beiterschaft über eine Revolution an. Dem Arzt Victor Adler gelang es schließlich, den Eini- gungsparteitag in Hainfeld (Niederösterreich) an der Jahreswende 1888/89 zu Stande zu bringen. Hier wurde eine erste gemeinsame Prinzipienerklärung der SDAPÖ (= Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs), das „Hainfelder Programm“, beschlossen: Q Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Öster- reich erstrebt für das gesamte Volk ohne Unter- schied der Nation, der Rasse und des Geschlechts die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhän- gigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung. Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu er- füllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Öster- reich, zu dessen Durchführung sie sich aller zweck- dienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mittel bedienen wird. Übrigens wird und muss sich die Partei in ihrer Taktik auch jeweils nach den Verhältnissen, insbe- sondere nach dem Verhalten der Gegner, richten. Es werden jedoch folgende allgemeine Grundsätze auf- gestellt: 1. Die SDAPÖ ist eine internationale Partei, sie ver- urteilt die Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt, des Besitzes und der Abstammung und er- klärt, dass der Kampf gegen die Ausbeutung interna- tional sein muss, wie die Ausbeutung selbst. 2. Zur Verbreitung der sozialistischen Ideen wird sie alle Mittel der Öffentlichkeit, Presse, Vereine, Ver- sammlungen voll ausnützen und für die Beseitigung aller Fesseln der freien Meinungsäußerung, Ausnah- megesetze, Presse-, Vereins- und Versammlungsge- setze eintreten. 3. Ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgend- wie zu täuschen, wird sie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Vertretungskörper mit Diätenbezug anstreben. 4. Soll noch innerhalb des Rahmens der heutigen Wirtschaftsordnung das Sinken der Lebenshaltung der Arbeiterklasse, ihre wachsende Verelendung ei- nigermaßen gehemmt werden, so muss eine lücken- lose und ehrliche Arbeiterschutzgesetzgebung (Be- schränkung der Arbeitszeit, Aufhebung der Kinder- arbeit usw.), deren Durchführung unter Mitkontrolle der Arbeiterschaft sowie die ungehinderte Organisa- tion der Arbeiter in Fachvereinen, somit volle Koali- tionsfreiheit angestrebt werden. 5. Im Interesse der Arbeiterklasse ist der obligatori- sche, unentgeltliche und konfessionslose Unterricht in den Volks- und Fortbildungsschulen sowie unent- geltliche Zugänglichkeit sämtlicher höheren Lehr- anstalten unbedingt erforderlich; die notwendige Vorbedingung dazu ist die Trennung der Kirche vom Staat und die Erklärung der Religion als Privatsache. (Aus der Ausstellung „Die ersten 100 Jahre“; gekürzt) Welche Anliegen sind den Sozialdemokraten besonders wichtig? In welchem Punkt wirkt liberales Gedankengut (Victor Adler war ursprünglich Liberaler) weiter? Welche Forderungen erscheinen für die damalige Zeit radikal, welche gemäßigt? Nach Hainfeld wollten die Sozialdemokraten zunächst die Industriearbeiter zu einer politisch selbstbewussten Klasse machen. Schon vor der Jahrhundertwende aber entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei allmäh- W Victor Adler (1852–1918) wurde in Prag als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Er besuchte das Wiener Schot- tengymnasium, studierte anschließend Medizin und ließ sich in Wien als Armenarzt nieder. Adler war ursprünglich deutschnational eingestellt, schloss sich aber bald wegen der antisemitischen Tendenzen bei den Großdeutschen der Arbeiterbewegung an. Adler trat für eine gründliche Reform der Monarchie ein. 271 Österreich im Mittelalter und in der Neuzeit 7 Nur zu Prüfzwe ken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=